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AMT & DIENST  -  GESCHICHTE

Materialien zum Problem der Pfarrerdienstanweisung in der Kirche

  1. Ordonnances Ecclésiastiques de l'Eglise

  2. - Alte Kirche
    - Luther und Zwingli
    - Calvin
    - Literatur
     
  3. Amt – Ämter - Dienste – Ordination, Ergebnis eines theologischen Gespräches

  4. - Einleitung
    - Zusammenfassung des Gesprächs
    - Zur Wortbedeutung des deutschen Wortes „Amt“
    - Zur Bedeutungsgeschichte
    - Exkurs: Das Beamtentum, seine Entstehung und sein Ethos bis ins 18. Jahrhundert
    - Der Gebrauch des Wortes „Amt“ in der deutschen Gegenwartssprache
    - Das Wort „Amt“ in Luthers Übersetzung des Neuen Testaments
    Das Wort „Amt“ bzw. dessen Äquivalente in neueren Bibelübersetzungen
    - Erwägungen zur Bestimmung des Wortsinns und zur Ersetzbarkeit des Wortes „Amt“ in Kirche und Theologie
     
  5. Dietrich Bonhoeffer - Pfarrbild (von Heiner Süselbeck )

  6. - Einleitung
    - Karl Barths Begründung  von Widerstandsvermögen  pastoraler Arbeit in  „theologischer
      Existenz“ und ihre Auswirkung auf ein neues  „Pfarrbild“
    - „Theologische Existenz“ und Komponenten eines „Pfarrbildes“ bei Dietrich Bonhoeffer
          1) Gemeinsames Leben und Teamfähigkeit
          2) Das Verhältnis von Amt, Person  und Gemeinde
          3) Persönliche Voraussetzungen  für die pastorale Arbeit in  Seelsorge und Unterricht
    - Predigt und Präsenz Christi
    - Schlussbemerkung
    - Anmerkungen, Literatur
     
     
  7. Pfarrer sein - was haben wir heute noch davon?
    Beobachtungen zum evangelischen Pfarramt seit Luther


    - Einleitung
    - Alte Kirche und Mittelalter in groben Zügen
    - Reformation
    - Die weitere Entwicklung bis 1580
    - Tendenzen 1580-1980
        - Orthodoxe Versorgungskirche und Gemeinde
        - Die wirtschaftliche Versorgung
        - Die Bedeutung akademischer Bildung
        - Die Akzeptanz des Pfarramtes
        - Blick aufs heute
    - Anmerkungen

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Materialien zum Problem der Pfarrerdienstanweisung in der Kirche


 
  • Ordonnances Ecclésiastiques de l'Eglise

  • - Alte Kirche
    - Luther und Zwingli
    - Calvin
    - Literatur
     

            Die Ordonnances Ecclésiastiques de l'Eglise de Genève von 1561
                                       als Führungskonzept
     

            Die Ordonnances Ecclésiastiques de l'Eglise de Genève von 1561 stammen in der Hauptsache
            von Johannes Calvin, der mit dieser Kirchenordnung neue Massstäbe für die
            Kirchenorganisation setzte. Dieser Beitrag blickt zuerst zurück auf die alte Kirche und die
            Reformatoren Luther und Zwingli, bevor er die Genfer Kirchenordnung auf ihre
            Führungsgrundsätze befragt. Zukunftsweisend waren die gleichberechtigte Zusammenarbeit von
            Theologen und Nichttheologen, die Fortbildung der Pfarrerschaft nach dem Prinzip des "learning
            by doing" und das Modell einer regelmässigen Kontrolle der Mitarbeiter. Im "Grundsatz der
            Ämterteilung ist eine der Wurzeln der calvinischen 'Demokratisierung' greifbar, aus denen sich
            [...] in Westeuropa die politische Form der repräsentativen Demokratie entwickelt hat." (Link
            1997, S. VI.)

            1. Alte Kirche

            Die in Harvard lehrende Neutestamentlerin Elisabeth Schüssler Fiorenza hat für die
            ursprüngliche Jesusbewegung den Begriff "Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten"
            geprägt. (Schüssler Fiorenza 1988.) Die erste christliche Generation kannte offensichtlich keine
            festen Ämter und noch weniger eine Hierarchie. Für die kleine Bewegung waren feste Strukturen
            überflüssig. Abgesehen von Jesus selbst gab es einzelne charismatische Persönlichkeiten, zum
            Beispiel:

            Auferstehungszeugen wie Maria Magdalena oder Petrus, · Wanderprediger wie der Apostel
            Paulus oder der "Evangelist" (Acta 21, 8) Philippus ·und Propheten wie die vier Töchter des
            Philippus ("Jungfrauen, die aus Eingebung redeten", Acta 21, 9) oder jener Johannes, auf den
            das letzte Buch des Neuen Testaments zurückgeht.

            Alles war im Fluss. Wer in der Gemeinde den Ton angeben wollte, konnte sich nicht auf ein Amt
            berufen, sondern musste persönlich überzeugen. Das Christentum hatte Erfolg. Reicke (1965, S.
            226 f.) berechnete, dass es kurz vor dem Jahr 67 (also 37 Jahre nach der Kreuzigung Jesu) im
            römischen Reich bereits etwa 40 000 Christinnen und Christen gab. Für die Jahre nach 100
            unserer Zeitrechnung vermutet er "die vielleicht überraschende, doch eher zu tief berechnete
            Zahl von wenigstens 80 000 kleinasiatischen Christen und Nahestehenden". "[...] für die Kirche
            [im ganzen römischen Reich] um 100 n. Chr. [ergibt sich] eine Gesamtzahl von Bekennern und
            Anhängern, die wahrscheinlich über 320 00 lag." Es versteht sich von selbst: Eine rein
            charismatische Führungsstruktur genügte bei diesen Zahlen nicht mehr. Stark vereinfacht lassen
            sich zwei Modelle unterscheiden:

            In stärker vom Judentum beeinflussten christlichen Gemeinden bildeten sich Kollegien von
            Gemeindeältesten, griechisch: Presbýteroi, das Wort, aus dem sich in den modernen
            europäischen Sprachen das Wort Priester entwickelt hat. Am Anfang hatte dieses Wort
            allerdings keine "priesterliche" Komponente. Es waren wirklich "Älteste", erfahrene und
            verdiente Persönlichkeiten, die als Team analog zu den Leitungsgremien der jüdischen
            Synagogalgemeinden wirkten. · In mehr von der griechisch-römischen Stadtkultur beeinflussten
            christlichen Gemeinden war das Leitungsgremium aus Aufsehern, griechisch: Epískopoi, das
            Wort, aus dem das Wort Bischof entstand, und Dienern, griechisch: Diákonoi, zusammengesetzt.

            Typisch ist Philipper 1, 1: "Paulus und Timotheus, Knechte Christi Jesu, an alle Heiligen in
            Christus Jesus, die in Philippi sind, samt den Aufsehern (Epískopoi) und Dienern (Diákonoi)."
            Mit den "Heiligen" ist die ganze Gemeinde gemeint. Die Aufseher oder Episkopen stehen in
            dieser frühen Zeit durchwegs in der Mehrzahl. Die Diener oder Diakone hatten in der ersten Zeit
            verschiedene Funktionen. Während die Diakonie später auf Armenfürsorge eingeschränkt wurde
            So Acta 6, 1-7, ein Text, der die spätere Theorie des Verfassers der Apostelgeschichte
            festschreibt!, geht aus Acta 6, 8 ff. und 7 hervor, dass der Diakon Stephanus auch predigte und
            sich anlässlich von Disputationen mit Gegnern der christlichen Gemeinde durch "Weisheit" und
            "Geist" hervortat. Der Ausdruck "bei Tisch dienen" kann auch "die Abendmahlsfeier leiten"
            bedeuten. Die "Schwester Phöbe, die 'ein Diakon' der Gemeinde in Kenchreä ist," Römer 16, 1;
            Diakon ist an dieser Stelle ein Maskulinum! war offensichtlich eine führende Persönlichkeit und
            nicht eine subalterne Hilfskraft. Nicht umsonst sagt Paulus von ihr: "[...], dass ihr sie aufnehmet
            im Herrn, wie es den Heiligen geziemt, und ihr beisteht in jedem Geschäft, worin sie euer bedarf
            [...]" (Römer 16, 2). Phöbe dürfte eine wohlhabende und einflussreiche Dame gewesen sein, die
            ihr Haus für christliche Gottesdienste zur Verfügung stellte. Für Paulus wirkte sie als Visitatorin
            und überbringerin des Römerbriefs. Nichts spricht dagegen, dass dieser "Diakon" Phöbe
            Eucharistiefeiern in ihrer Hausgemeinde vorstand. Eine hierarchische Führungsstruktur der
            christlichen Gemeinden entwickelte sich erst in nachbiblischer Zeit im zweiten Jahrhundert. Etwa
            der Apostel Petrus (nach der Tradition gestorben in der Christenverfolgung unter Kaiser Nero
            im Jahr 64 nach Christus) konnte schon rein darum nicht als erster "Bischof" von Rom amtieren,
            weil die Gemeinde von Rom zu seiner Zeit von einer ganzen Gruppe von Episkopen oder
            Bischöfen geleitet wurde Venetz/Bieberstein (1995), S. 376: "Die Grussliste Röm 16, 1-16 lässt
            vermuten, dass es in Rom zur Zeit [von Petrus und Paulus] eher einen losen Verband recht
            unterschiedlicher Hausgemeinden denn eine einzige, gut strukturierte christliche Gemeinde
            gab." (Hier weitere Spezialliteratur zum römischen Christentum in dieser sehr frühen Zeit!)
            Venetz und Bieberstein sind anerkannte römisch-katholische Autoren. - ähnlich wie diejenige von
            Philippi im oben angeführten Beispiel! Der "monarchische Episkopat" mit einem einzigen
            Bischof an der Spitze, dem die Presbyter und Diakone untergeordnet sind, lässt sich erst beim
            Märtyrerbischof Ignatius von Antiochien gegen das Jahr 110 ausmachen. (Zu jener Zeit war es
            allerdings nur ein Führungsmodell neben anderen, aber welthistorisch betrachtet das
            "siegreiche"!) In seinem Brief an die kleinasiatische Gemeinde in Philadelphia schreibt er:

            "Seid deshalb bedacht, eine Eucharistie zu gebrauchen - denn eines ist das Fleisch unseres
            Herrn Jesus Christus und einer der Kelch zur Einigung in seinem Blut, einer der Altar, wie einer
            der Bischof zusammen mit dem Presbyterium und den Diakonen [...]." (S. 197.)

            In seinem Brief an die Gemeinde in Smyrna heisst es:

            "Folgt alle dem Bischof wie Jesus Christus dem Vater, und dem Presbyterium wie den Aposteln;
            die Diakone aber achtet wie Gottes Gebot! Keiner soll ohne Bischof etwas, was die Kirche
            betrifft tun. [...] Wo der Bischof erscheint, dort soll die Gemeinde sein, wie da, wo Christus Jesus
            ist, die katholische [d. h. allgemeine] Kirche ist. Ohne Bischof darf man weder taufen, noch das
            Liebesmahl halten; [...]. [...] Gut ist es, Gott und den Bischof anzuerkennen. Wer den Bischof
            ehrt, steht in Ehren bei Gott; wer hinter dem Rücken des Bischofs etwas tut, dient dem Teufel."
            (S. 211 ff.)

            Im Vergleich zu späteren Jahrhunderten waren die Verhältnisse damals noch klein und
            überblickbar. Ein Aufseher, Bischof oder Episkop leitete nicht eine riesige Diözese, sondern
            amtete gewissermassen als "Stadtpfarrer". Wie in einer Nussschale begegnet in diesen Texten
            aber bereits das hierarchische Kirchenmodell der römisch-katholischen und der orthodoxen
            Kirchen: Der Bischof als Einzelperson steht an der Spitze einer Pyramide, unter ihm die
            Presbyter oder Ältesten, noch einmal weiter unten die Diakone - und erst jetzt folgen die
            "Laien", was wörtlich übersetzt das "Volk" heisst. Dem "Teufel" dient, wer sich in dieses
            System nicht einfügt! Während Jahrhunderten blieb umstritten, ob nicht die Versammlung
            sämtlicher Bischöfe (ein "ökumenisches Konzil") dem Papst übergeordnet sei. In der Neuzeit hat
            sich das Modell mit dem Papst an der Spitze definitiv durchgesetzt. Viele erfahren eine so straff
            geführte Kirche besonders in stürmischen Zeiten als einen sicheren Hort. Als problematisch
            erwies sich schon früh die Entmündigung der sogenannten "Laien". Auch der einzelne Bischof
            (oder sogar Priester) verfügt nur über einen kleinen Spielraum. Charismatische Persönlichkeiten
            haben oft einen schweren Stand. Und vor allem die Frauen müssen in diesen Strukturen in der
            Regel "schweigen" Vgl. bereits 1. Korinther 14, 33 f.: "Wie in allen Gemeinden der Heiligen
            sollen die Frauen in den Gemeindeversammlungen schweigen [...]", ein Satz, der nicht von Paulus
            selber stammt, sondern eine spätere - sehr wirkungsvolle - Interpolation ist..

            2. Luther und Zwingli

            Bevor auf Johannes Calvin eingegangen wird, zuerst ein Blick auf Luther und Zwingli, die beiden
            wichtigsten Vertreter der ersten reformatorischen Generation: Und hier mag vielleicht
            erstaunen, dass es auch in ihrem Bereich bei eher autoritären Führungsstrukturen blieb. Luther
            war in erster Linie ein Erneuerer der Glaubenslehre. Mit Bischöfen und dem Papst an ihrer
            Spitze hätte er sich sehr wohl abgefunden, wenn diese seine Theologie akzeptiert hätten. "Dass
            Luther und die andern Reformatoren nur eine Reformation innerhalb der [römisch-katholischen
            Kirche] gewollt haben, darf heute als allgemein anerkannt gelten." (Grundmann 1959, Sp. 1571.)
            Oft zitiert wird der Satz:

            "Wenn wir [...] erlangen, dass anerkannt wird, Gott allein aus lauter Gnade rechtfertigt durch
            Christus, dann wollen wir den Papst nicht nur auf Händen tragen, sondern ihm auch die Füsse
            küssen." (Luther 1531/35, S. 177.)

            Die Stelle steht im verhältnismässig späten Galaterkommentar von 1531/35 und dokumentiert,
            dass auch der bereits relativ "alte" Luther die Türe nach Rom nicht restlos zuschlug. Besonders
            ausführlich äussert sich Luther zu diesem Thema in einem an Papst Leo X. adressierten
            "Sendbrief", dem Geleitwort zu seiner Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" von
            1520 (Luther 1520, 3). In immer neuen Wendungen betont er, dass er grundsätzlich bereit wäre,
            die römisch-katholische Hierarchie und an ihrer Spitze den Papst anzuerkennen, sofern dieser
            bloss seine theologischen Reformvorschläge annimmt:

            "Ich [habe] aus allen meinen Kräften dir und deinem römischen Stuhl das Beste allzeit
            gewünscht und mit fleissigem, herzlichem Gebet, so viel ich vermochte, bei Gott gesucht [...]." (S.
            3.)

            "Ich [möchte] doch [...] deine Person, Heiliger Vater, ehren und mit einer untertänigen Schrift
            deine und meine Unschuld verteidigen, in der Meinung, es sei die Sache noch nicht gänzlich
            verloren und verzweifelt, wenn der Heilige Vater Leo würde nach seiner angeborenen,
            hochberühmten Gütigkeit die Hand daran legen." (S. 9.)

            "So komm ich nun, Heiliger Vater Leo, und zu deinen Füssen liegend bitte ich, wenn es möglich
            ist, du wollest deine Hand dran legen, den Schmeichlern, die des Friedens Feind sind und doch
            Frieden vorgeben, einen Zaum einzulegen." (S. 9.)

            Der katholische Kirchenhistoriker Manns (1982, S. 117) hat "das Papstbild Luthers im
            'Sendbrief' an Leo X. keineswegs unwahrhaft und vor allem nicht bedeutungslos" genannt. Es ist
            eine geradezu atemberaubende Vorstellung, wenn der Papst auf das Anliegen Luthers
            eingegangen wäre und seine Bannandrohungsbulle zurückgenommen hätte! Es kam aber anders
            heraus. Die römisch-katholische Hierarchie war (noch) nicht bereit für eine umfassende
            Kirchenreformation. Um sich wenigstens in seinem eigenen Land durchzusetzen, mobilisierte
            Luther die Träger der politischen Gewalt. Im Sommer 1520 (also bereits vor dem
            Versöhnungsversuch mit dem Papst im eben erwähnten "Sendbrief") wandte er sich in einer
            flammenden Programmschrift "An den christlichen Adel deutscher Nation" (Luther 1520, 1). Das
            Wort "Adel" in dieser Überschrift meint alle politischen Instanzen. Wenn die kirchliche
            Hierarchie nicht selbst für Abhilfe sorgt und die kirchlichen Missstände behebt, dann ist es
            Pflicht der sogenannten "Laien", denen politische Verantwortung für das Gemeinwohl
            übertragen ist, die kirchlichen Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen.

            "O edle Fürsten und Herren, wie lange wollt ihr euer Land und Leute solchen reissenden Wölfen
            offen und frei lassen!" (S. 421.)

            Luther entwickelt in dieser Schrift seine Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen:

            "Denn alle Christen sind in Wahrheit geistlichen Standes [...]; denn die Taufe, Evangelium und
            Glaube, die machen allein geistlich und Christenvolk." (S. 407.)

            "Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester,
            Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht einem jeglichen ziemt, ein solches Amt
            auszuüben." (S. 408.)

            "Wenn ein Häuflein frommer christlicher Laien würde gefangen und in eine Wüstenei gesetzt,
            die nicht bei sich hätten einen von einem Bischof geweihten Priester und würden allda der Sache
            einig, erwählten einen unter ihnen, [...], und würden ihm das Amt, zu taufen, Messe zu halten, die
            Absolution zu erteilen und zu predigen, anbefehlen, der wäre in Wahrheit ein Priester, als ob ihn
            alle Bischöfe und Päpste geweiht hätten. Daher kommt's, dass in der Not ein jeglicher taufen und
            die Absolution erteilen kann, was nicht möglich wäre, wenn wir nicht alle Priester wären." (S. 407
            f.)

            Luther entwirft hier ein kirchliches Notrecht: Wo die Hierarchie abwesend ist (oder ihre Pflicht
            nicht tut), haben die sogenannten "Laien" das Recht (und die Pflicht), in der Kirche zum Rechten
            zu sehen. Sie dürfen geweihte Priester oder Bischöfe absetzen und neue kreieren.

            "Drum soll die Stellung eines Priesters nicht anders sein in der Christenheit als wie diejenige
            eines Amtsmanns: solange er im Amt ist, steht er an der Spitze; wenn er abgesetzt ist, ist er ein
            Bauer oder Bürger wie die anderen." (S. 408.)

            "Drum sage ich: dieweil weltliche Gewalt von Gott geordnet ist, die Bösen zu strafen und die
            Frommen zu schützen, so soll man ihr Amt lassen frei gehen ungehindert durch den ganzen
            Körper der Christenheit, ohne Rücksicht auf irgend jemand, sie treffe Papst, Bischof, Pfaffen,
            Mönche, Nonnen oder was es ist." (S. 409.)

            "Drum soll weltliche christliche Gewalt ihr Amt üben frei, ungehindert, unangesehen, ob es der
            Papst, ein Bischof oder Priester sei, den sie trifft. Wer schuldig ist, der leide." (S. 409.)

            Die Ausschnitte machen deutlich, dass auch für Luther (und nicht nur für seine Gesprächspartner
            in Rom) die Kirche nicht einfach eine Anarchie war. Es wurde bereits zitiert, dass "es nicht
            einem jeglichen ziemt, ein solches Amt auszuüben", obwohl das allgemeine Priestertum
            grundsätzlich für alle gilt. Auch in dieser Schrift ist Luther bereit, sogar den Papst zu akzeptieren,
            sofern dieser die dreifache Krone - die Tiara - ablegt und sich mit einer gewöhnlichen
            Bischofsmitra begnügt Was unter Papst Paul VI. im 20. Jahrhundert verwirklicht worden ist!:

            "Es wäre dem Papst genug eine gewöhnliche Bischofskrone - mit Bildung und Heiligkeit sollte er
            grösser sein als die anderen - und die Krone der Hoffart dem Antichrist lassen, wie da getan
            haben seine Vorfahren vor etlichen hundert Jahren." (S. 416.)

            Eine "christliche Obrigkeit" muss sich jedoch auch um die Kirche kümmern. Die cura religionis,
            d. h. die Sorge für die Religion, ist eine Angelegenheit der weltlichen Regierung. "Als Glied der
            Kirche, als membrum praecipuum ecclesiae [hervorragendes Glied der Kirche] kann [...] die
            christliche Obrigkeit in geistlicher Vollmacht gegen Missbräuche einschreiten und Visitationen
            vornehmen." (Scheuner 1957, Sp. 1889.) Faktisch entwickelten sich die lutherischen Kirchen in
            Deutschland so: Die Kirche wurde ein Zweig der staatlichen Verwaltung. Die Pfarrer waren
            Beamte, nicht mehr einer Hierarchie, dafür aber der Bürokratie unterstellt. Da die meisten
            römisch-katholischen Bischöfe sich den reformatorischen Anliegen Luthers verschlossen,
            entstand der "Summepiskopat" der Landesfürsten. "Superintendenten", d. h. erfahrene
            Theologen, erhielten den Auftrag, im Namen des Fürsten die Pfarrer zu visitieren - eine
            Kirchenstruktur, die bis ins Revolutionsjahr 1918 erhalten geblieben ist. Vor allem auf dem Land
            waren die Pfarrer nicht nur Seelsorger, sondern praktisch auch Repräsentanten der Regierung in
            der fernen Stadt. Anlässlich ihrer Ordination mussten die angehenden Pfarrer in Preussen
            schwören:

            "Eben[so] will ich zur rechten Zeit es aufdecken, wenn ich erfahren sollte, dass etwas obhanden
            sey zur Änderung oder Aufhebung dieser trefflichen Grundverfassung, in welcher das Wohl des
            Staates bestand und bestehet; und dem ich, in allen Punkten gehorchen und nachkommen will
            und werde. Desgleichen will ich, so viel an mir ist, Gehorsam schaffen Seiner Königlichen
            Majestät, meinem allergnädigsten Könige, und denen, welche von seinetwegen zu gebieten und
            zu befehlen haben. Auch alle meine Pfarrkinder und Gemeinsglieder anhalten, jederzeit recht zu
            denken und zu reden über das weltliche Regiment, welches von Gott verordnet ist."
            (Kirchenagende für die Hof- und Domkirche in Berlin 1822, S. 231.)

            Anstelle der "babylonischen Gefangenschaft" der Kirche unter dem sich der Kirchenreformation
            verschliessenden Papsttum in Rom (Luther 1520, 2) war eine "babylonische Gefangenschaft"
            der Kirche unter dem Staat geworden, was Luther natürlich nicht so gewollt hat! Das neue
            kirchliche Leitungsmodell mochte sich einigermassen bewähren, solange die weltliche Obrigkeit
            sich selbst als christlich verstand und sich am Evangelium orientierte (was z. B. bei Luthers
            Landesherr, Friedrich dem Weisen, aber auch bei dessen ersten Nachfahren, unbestreitbar
            zutraf). Je länger, desto mehr mussten die evangelischen Kirchen sich aber oft für Dinge in
            Anspruch nehmen lassen, die ihrem göttlichen Auftrag wenig oder überhaupt nicht mehr
            entsprachen. Das preussische Ordinationsgelübde dokumentiert eine Kirche, die in einem
            erschreckenden Ausmass politisiert und für je nach Situation äusserst fragwürdige
            Staatsschutzaufgaben - als politische Polizei - missbraucht wird. In den vom Zürcher Reformator
            Huldrych Zwingli beeinflussten Gebieten verlief die kirchliche Entwicklung ähnlich. Auch Zwingli
            erlebte, dass der für ihn zuständige Bischof von Konstanz der Reformation abwartend, wenn
            nicht sogar ablehnend gegenüberstand. Zwingli forderte deshalb die Obrigkeit der freien
            Reichsstadt Zürich auf, selbständig für die Kirchenreformation zu sorgen. Auf den 29. Januar
            1523 erging die feierliche Einladung zur ersten Zürcher Disputation:

            "Wir, der Bürgermeister, Rat und der grosse Rat, den man die Zweihundert nennt, der Stadt
            Zürich verkünden allen Leutpriestern, Pfarrern, Seelsorgern und Prädikanten, die in unseren
            Städten, Grafschaften, Herrschaften, hohen und niederen Gerichten und Gebieten verpfründet
            und wohnhaft sind, unseren Gruss und günstigen und geneigten Willen. Wir geben euch bekannt:
            Weil seit einiger Zeit viel Zwietracht und Entzweiung sich erhebt zwischen denen, welche auf der
            Kanzel das Wort Gottes dem Volk verkündigen [...], so besteht unser Befehl, Wille und unsere
            Absicht darin, dass Ihr, Pfarrer, Seelsorger und Prädikanten, entweder gemeinsam oder jeder für
            sich [...] auf den [...] 29. Tag des Monats Januar früh am Morgen, wenn der Rat zusammentritt,
            in unserer Stadt Zürich und daselbst in unserem Rathaus vor uns erscheinen sollt, um das,
            worüber Ihr uneinig seid, aufgrund der wahrhaftigen göttlichen Schrift zu diskutieren" (Köhler
            1926, S. 91 f.).

            Der Text macht deutlich, dass die Zürcher Obrigkeit das Heft selbstbewusst in die Hände nahm
            und von jetzt an in eigener Regie für die Kirche sorgte. Resultat der Disputation war, dass
            Zwingli mit dem Segen der Regierung in seiner reformatorischen Predigttätigkeit weiterfahren
            durfte. Von jetzt an waren auch in Zürich (und bald darauf in den andern evangelischen Ständen
            der Eigenossenschaft) die weltlichen Behörden für die Religion zuständig. Noch im frühen 19.
            Jahrhundert hatte z. B. die evangelisch-reformierte Kirche der Stadt St. Gallen keine finanziellen
            Kompetenzen. Die Pfarrer wurden vom Rat gewählt und besoldet. "[...] die lokale Kirchenleitung
            [besass] keinerlei Mittel [...], um die als notwendig erkannten Massnahmen auszuführen; keinen
            Gulden konnte sie in eigener Kompetenz ausgeben [...]." (Ehrenzeller 1993, S. 38.) Es war (wie z.
            B. auch in Zürich und Bern) ein reines Staatskirchentum. In St. Gallen änderte sich das im Sinne
            einer recht weitgehenden Entflechtung von Kirche und Staat erst 1859 Als unschöne Spur des
            alten Staatskirchentums ist allerdings übriggeblieben, dass der Staat St. Gallen den Kirchen
            auch heute noch verbietet, ausländischen Gemeindegliedern das kirchliche (aktive und passive)
            Wahl- und Stimmrecht zu gewähren!. Reste des alten reformierten Staatskirchentums überleben
            in Zürich, Bern, in der Waadt und in Baselland zum Teil bis heute. Etwas sagte der Zürcher
            Reformator Zwingli allerdings deutlicher als Luther: Auch wenn die Pfarrer in seiner Kirche
            Staatsbeamte wurden, bedeutete das nicht, dass sie der Obrigkeit nach dem Mund predigen
            sollten. Die von Zwingli konzipierte Kirche legte von Anfang an viel Gewicht auf ihr
            "Wächteramt" gegenüber der Regierung. Heutigen Kritikern kirchlicher "Einmischung" in
            politische und wirtschaftliche Angelegenheiten sei Zwinglis Schrift "Der Hirt" zur Lektüre
            empfohlen, welche Pfarrer Jakob Schurtanner, "dem Bischof, das heisst: Wächter und Hirt im
            appenzellischen Teufen" (Zwingli 1524, S. 249) gewidmet ist:

            "[...] dass der Hirt auch dem König, Fürsten oder Oberen nichts durchgehen lassen darf, sondern
            jedem seinen Irrtum anzeigen soll, sobald er sieht, dass jener vom Weg abkommt." (S. 271.) "[...]
            dass der Hirt tun muss, was niemand wagt: Den Finger auf wunde Stellen legen und Schlimmes
            verhüten, keinen schonen, vor Fürsten, Volk und Geistliche treten, sich weder durch Grösse,
            Einfluss und Zahl, noch durch irgendwelche Schreckmittel beeindrucken lassen, sofort zugegen
            sein, wenn Gott ruft[,] und nicht nachlassen, bis sie sich ändern." (S. 278.)

            In seinen eigenen Predigten und Schriften verhielt sich zwar auch der Wittenberger Reformator
            nach diesem Grundsatz. In der Theorie vertrat er aber mehr als sein Zürcher Kollege den
            Gehorsam gegenüber der Obrigkeit (etwa in seiner Auslegung des biblischen Gebotes der
            Elternehrung). Zwingli sagte deutlicher als Luther, dass ein Pfarrer "den König, den Regenten
            nicht [...] schonen" darf (S. 271), sondern sich an die Bibelstelle halten soll: "Man muss Gott
            mehr gehorchen als den Menschen." (Acta 5, 29.) Luther (1520, 1, S. 415) konnte sich in den
            Anfangsjahren der Reformation auch auf dieses Wort berufen: "Darum lasset uns aufwachen,
            liebe Deutsche, und Gott mehr denn die Menschen fürchten [...]!"

            3. Calvin

            Doch nun Johannes Calvin in Genf! Zuerst eine Vorbemerkung: Der Name Calvin hat bei vielen
            einen schlechten Ruf. Sobald er genannt wird, denkt man an die "finstere" Lehre von der
            "doppelten Prädestination" und daran, dass Calvin angeblich den spanischen Arzt Michael
            Servet auf dem Scheiterhaufen verbrannt hat. Dazu ist festzuhalten: Nicht vielen historischen
            Persönlichkeiten wird in den volkstümlichen Geschichtsdarstellungen so übel mitgespielt wie dem
            Genfer Reformator! Zur Lehre von der "doppelten Prädestination", die Calvin in seinen
            akademischen theologischen Schriften (nicht aber in seinen Predigten) vertrat: Diese Lehre ist
            so subtil, dass sie nur in einem theologischen Seminar für Fortgeschrittene angemessen erörtert
            werden kann. Es ist sehr anspruchsvoll, zu zeigen, ob und wie sie sich überhaupt von der
            Prädestinationslehre des Thomas von Aquino, des grössten römisch-katholischen Theologen
            aller Zeiten, abhebt. Auch Thomas lehrte, dass Gott Erwählung oder Verdammung des einzelnen
            vor aller Zeit vorherbestimmt hat! Thomas von Aquino, Summa Theologiae I 23. Hier Artikel 3:
            "Wie die Vorherbestimmung ein Teil der Vorsehung ist im Hinblick auf die, welche
            göttlicherweise auf das ewige Heil hin[g]eordnet werden, so ist [...] die Verwerfung ein Teil der
            Vorsehung bezüglich derer, die von diesem Endziel abfallen." "[...] die Vorherbestimmung [...] ist
            nicht bloss ein Vorauswissen [...]." Bernhart (1985), S. 182. Zu Michael Servet: Es trifft zu, dass
            Johannes Calvin der Meinung war, ein Leugner des klassischen Dogmas von der Trinität habe
            den Tod verdient. Calvin stimmte darin aber überein mit fast allen römisch-katholischen,
            evangelisch-lutherischen und evangelisch-reformierten Kirchenmännern seiner Zeit. In
            theologischen Gutachten befürworteten die Kirchen von Basel, Zürich, Schaffhausen und Bern
            die Todesstrafe für den spanischen Arzt. Schwarz (1962), S. 661:"Der Bote ist aus der Schweiz
            zurückgekommen. Einmütig sprechen sich alle dahin aus, Servet habe die gottlosen Irrlehren, mit
            denen in früheren Zeiten Satan die Kirche verwirrte, wieder neu aufgebracht und sei ein nicht zu
            duldendes Ungeheuer. Die Basler mutig, die Zürcher am leidenschaftlichsten von allen; denn das
            Furchtbare seiner Gottlosigkeit wird von ihnen sehr nachdrücklich betont, und sie mahnen
            unseren Rat zur Strenge. Die Schaffhauser pflichten ihnen bei. Dem Brief der Berner
            [Theologen] liegt auch ein Schreiben ihres Rates bei, das die Unseren nicht wenig angespornt
            hat." (Brief vom 26. Oktober 1553 an Farel in Neuchâtel.) Und zur Verbrennung auf dem
            Scheiterhaufen: Calvin war zwar für die Hinrichtung Servets, versuchte jedoch, eine weniger
            grausame Hinrichtungsform zu erreichen. Schwarz (1962), S. 650: "Ich hoffe, dass das Urteil auf
            Todesstrafe ausfällt; aber mein Wunsch ist, dass die Grausamkeit des Strafvollzugs gemildert
            wird." (Brief vom 20. August 1553 an Farel in Neuchâtel.) S. 662: "Die Art der Todesstrafe
            suchten wir zu ändern, doch umsonst." (Brief vom 26. Oktober 1553 an Farel in Neuchâtel.) Das
            Genfer Gericht war aber nicht bereit, auf Calvin zu hören. - Alles in allem lässt sich feststellen,
            dass ein Geschichtsbuch oder Lexikon nach dem anderen die gleichen undifferenziert
            unfreundlichen Aussagen über Calvin dem vorangehenden abschreibt, ohne sie an den Quellen zu
            überprüfen. Das eigentliche Thema dieser Abhandlung sind die Ordonnances Ecclésiastiques de
            l'Eglise de Genève von (1541 und in ihrer endgültigen Fassung) 1561. Ohne zu übertreiben, wird
            man sagen dürfen, dass Calvin mit seinem Führungskonzept für die Genfer Kirche
            epochemachend war. Anders als Luther brach er nicht nur mit dem hierarchischen Kirchenmodell
            der römisch-katholischen (und der orthodoxen) Kirche. Jedenfalls langfristig betrachtet, verstand
            er es zugleich, ein Staatskirchentum und die damit verbundene Bürokratisierung und politische
            Entmündigung der Kirche zu vermeiden, wie man sie in Deutschland und teilweise in der
            deutschen Schweiz kennt. Am Anfang herrschten in Genf nach der Reformation zwar die gleichen
            Strukturen wie in Zürich und Bern und anderswo in der Eidgenossenschaft. Auch in Genf hatte
            der Rat - d. h. die politische Obrigkeit - die Reformation eingeführt. Calvin selbst empfing seinen
            Lohn von den bürgerlichen Behörden. Der Genfer Reformator nahm aber zwei in die Zukunft
            weisende Weichenstellungen vor: Einerseits versuchte Calvin, Kirche und Staat in Genf so weit
            wie möglich zu entflechten. Er kämpfte z. B. dafür, dass auch Gemeindeglieder ohne das Genfer
            Bürgerrecht in kirchlichen Angelegenheiten mitentscheiden konnten. Christengemeinde und
            Bürgergemeinde waren nach Calvins Verständnis nicht identisch! Symbolhaft zeigte sich der
            Unterschied zwischen Kirche und Staat darin, dass Calvin es durchsetzte, dass Ratsmitglieder,
            die im Konsistorium sassen (vgl. dazu weiter unten), bei diesen kirchlichen Sitzungen ihre
            politischen Machtinsignien zu Hause lassen mussten:

            "Entgegen der von der Allgemeinen Bürgerversammlung verabschiedeten Kirchenordnung ist
            vor einiger Zeit der Brauch eingeführt worden, dass einer der vier Bürgermeister mit seinem
            Amtsstab dem Konsistorium vorsteht, was eher nach einer zivilen Rechtssprechung aussieht, als
            nach einer geistlichen Leitung. Die heilige Schrift lehrt uns aber zu unterscheiden zwischen dem
            Schwert und der Autorität der Regierung einerseits und der Aufsichtsbefugnis der Kirche
            andererseits, welche dazu dient, alle Christen zum Gehorsam und zum wahren Gottesdienst
            anzuhalten [...]. Um diese Unterscheidung besser zu wahren, verfügen wir, dass man also nur zwei
            aus dem Kleinen Rat wählt, und dass, falls einer davon ein Bürgermeister ist, dieser dort nur in
            der Funktion eines Ältesten zur Leitung der Kirche tätig ist, ohne Regierungsstab." (S. 275.)

            Diese Ergänzung der Ordonnances Ecclésiastiques wurde am 9. Februar 1560 beschlossen.
            Anderseits, und das ist der noch wichtigere Punkt: Calvin schuf eine Kirchenverfassung, die es
            der reformierten Kirche ermöglichte, zuerst in Frankreich und später in den Niederlanden, in
            Ungarn, England, Schottland, Nordirland und Nordamerika auch ohne staatliche Protektion zu
            überleben. Die reformierte Kirche verwaltete sich so weit als möglich selbst. Und zwar stand an
            ihrer Spitze nicht ein einzelner (auch nicht Calvin persönlich), sondern ein ganzes Team, in dem
            Theologen und Nichttheologen sich in der Verantwortung für die Kirche teilten. Besonders diese
            Kooperation zwischen Theologen und Nichttheologen, die völlig gleichberechtigt sind, dürfte bis
            in die Gegenwart von höchster Aktualität sein. Eine Kirche, in der nur Theologen (oder Priester)
            den Ton angeben, wird möglicherweise weltfremd (oder klerikal). Umgekehrt, eine Kirche, die
            nur von Politikern (und Juristen oder ökonomen) geleitet wird, läuft Gefahr, ihre geistliche
            Tiefendimension zu verlieren. Sie ist dann vielleicht nicht mehr das "Salz der Erde" (Matthäus 5,
            13). Oder sie erstarrt in überholten religiösen Klischees. Der wichtigste Punkt der Ordonnances
            Ecclésiastiques ist ihre Lehre von den vier ämtern:

            1. Pfarrer (ministres, für Predigt und Seelsorge); 2. Doktoren (docteurs, für den theologischen
            Unterricht); 3. älteste (anciens, dem weltlichen Rat entnommen); 4. Diakone (diacres, für die
            Armenpflege).

            Calvin war der Meinung, diese ämter im Neuen Testament finden zu können. Das trifft insofern
            zu, als das Neue Testament in der Tat alle vier Funktionen kennt (allerdings noch weitere). Der
            Unterschied besteht aber darin, dass (wie am Anfang dieser Arbeit ganz knapp angedeutet
            wurde) das Neue Testament keine einheitliche ämterlehre aufweist. Wie gezeigt, gab es eher am
            Judentum orientierte Gemeinden mit einem Team von Ältesten an der Spitze und eher von der
            griechisch-römischen Stadtkultur geprägte Gemeinden mit einem Leitungsteam von Episkopen
            und Diakonen. Später wurden beide Modelle miteinander kombiniert und dann hierarchisiert.
            Calvin war sich dieser historischen Nuancen noch nicht bewusst. Er las das Neue Testament
            "synchron" und nicht "diachron", d. h. alle Texte liegen auf derselben Ebene nebeneinander.
            Eine historische Tiefenschärfe gibt es nicht. Die Kirche war von Anfang an "fertig" da. Das
            ändert aber nichts daran, dass Calvin besser als viele andere vor und auch nach ihm ein Flair für
            die Vielzahl der biblischen Ämter hatte. Eine christliche Gemeinde ist zu ihrem Wohl darauf
            angewiesen, dass viele verschiedene mit ihren unterschiedlichen Begabungen und Ausbildungen
            zusammen die Verantwortung übernehmen und gemeinsam tragen. Im von Calvin geschaffenen
            Führungskonzept für die Genfer Kirche bahnt sich an, was knapp zweihundert Jahre später der
            französische Schriftsteller und Staatstheoretiker Montesquieu als Forderung für einen
            menschenwürdigen Staat aufstellte: das Prinzip der Gewaltentrennung. Es ist nicht gut, wenn eine
            noch so "aufgeklärte" Instanz allein regiert. Macht korrumpiert. Ein ausgeklügeltes System von
            Gewichten und Gegengewichten ("checks and balances") sorgt dafür, dass niemand zu mächtig
            werden kann. Die verschiedenen Instanzen kontrollieren sich gegenseitig. Ununterbrochen
            müssen sie miteinander im Gespräch sein. Um eine wirkliche Zusammenarbeit der verschiedenen
            Amtsträger in der Kirche zu erreichen, schuf Calvin zwei kirchliche Ausschüsse:

            1. die Vénérable compagnie, gebildet aus den ministres und den docteurs; gemeinsam übten
            diese das kirchliche Lehramt aus und prüften und wählten die Pfarrer. 2. das Konsistorium
            (consistoire), zusammengestellt aus allen ministres und den anciens (zwölf an der Zahl, zwei aus
            dem Kleinen Rat, vier aus dem Rat der 60 und sechs aus dem Rat der 200), die eigentliche
            Kirchenleitung im engeren Sinne dieses Wortes. Da auch die lutherische Kirche in Deutschland
            den Begriff Konsistorium Im römisch-katholischen Kirchenrecht bedeutet das Wort
            Konsistorium die Versammlung der Kardinäle. kennt, ist es wichtig, zu unterscheiden: Als
            Konsistorium in der lutherischen Kirche bezeichnet man die oberste kirchliche
            Verwaltungsbehörde. In der reformierten Genfer Kirche war das consistoire eine eigentliche
            Synode, in der sämtliche Pfarrer und ältesten sassen und gemeinsam über kirchliche
            Angelegenheiten verhandelten und beschlossen.

            Einzig die Diakone waren nicht an der Kirchenleitung beteiligt, aus heutiger Sicht eine
            Schwachstelle in Calvins Führungskonzept. Immerhin war es eine Pionierleistung, den Diakonat
            überhaupt wieder aufleben zu lassen und die soziale Verantwortung der Kirche so auch
            institutionell zu unterstreichen. Kritisch wurde vom deutschen Kirchenrechtsspezialisten Hans
            Liermann formuliert, dass bei Calvin "die Gemeinde [das 'gewöhnliche' Kirchenvolk] mundtot
            blieb" (Grundmann 1959, Sp. 1577). Das ist aber ein zu strenges Urteil, auch wenn einzuräumen
            ist, dass Calvins Genfer Kirche keine "Demokratie" im modernen Sinn war. Durch die
            Einbindung von immerhin zwölf Ratsherren, welche die Bevölkerung vertraten, in die
            Kirchenleitung war mindestens der Keim gelegt für eine zukünftige Demokratisierung. Darüber
            hinaus ist festzuhalten: Die Pfarrer wurden zwar von der Vénérable compagnie gewählt, die
            "gewöhnlichen" Gemeindeglieder hatten aber ein Vetorecht:

            "Zuerst sollen die Pfarrer denjenigen, den man ins Amt einsetzen will, bestimmen, nachdem sie
            unseren Kleinen Rat davon unterrichtet haben. Anschliessend soll er dem Rat vorgestellt
            werden. Wird er als geeignet angesehen, soll man ihn dort annehmen und bestätigen. Dabei soll
            man ihm seine Eignung öffentlich bescheinigen, um ihn schliesslich im Gottesdienst dem Volk
            vorzustellen, damit er so durch die allgemeine Zustimmung der Gemeinde der Gläubigen [par
            consentement commun de la compagnie des fidèles] angenommen wird." (S. 241 [und S. 240].)
            Das "consentement commun de la compagnie des fidèles" steht eindeutig zwar nicht zeitlich,
            wohl aber logisch an der ersten Stelle.

            "Bei der Wahl eines Pfarrers soll sein Name öffentlich bekannt gemacht werden. Dann kann,
            wer etwas gegen ihn einzuwenden hat, dies vor dem Tag der Vorstellung tun, damit man, falls er
            wirklich zum Amt ungeeignet ist, eine neue Wahl treffen kann." (S. 243.)

            Pfarrer in der Genfer Kirche wurde man also nicht als Resultat einer geheimen Kabinettspolitik.
            Man war auf die Akzeptanz bei den Gemeindegliedern angewiesen - ein deutlicher Unterschied
            zu den Verhältnissen in der römisch-katholischen Kirche, aber auch in den lutherischen Kirchen
            damals. In den Anfangsjahren der Reformation trat Luther zwar dafür ein: "Dass eine christliche
            Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu
            berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift." (Luther 1523.) Nach den für ihn
            traumatischen Erfahrungen des deutschen Bauernkrieges von 1525 verzichtete Luther aber
            darauf, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Erst im Bereich des Calvinismus entwickelte sich
            "das System der selbstregierten Frei-K[irche] mit der Gemeinde als Grundlage [...] und mit
            verantwortlicher Laienmitarbeit als Lebenskraft" (Grundmann 1959, Sp. 1578), was letztlich auf
            Calvin zurückgeht. Wirklich durchsetzen konnte sich dieser Grundsatz allerdings nur in Ländern,
            in denen die Obrigkeit nicht selber evangelisch-reformiert war. Wie allgemein bekannt ist,
            genügt ein noch so schönes Organigramm auf dem Papier nicht, wenn seine Durchführung in der
            Praxis nicht in einer sinnvollen Weise kontrolliert wird. Zum Schluss deshalb ein Blick auf die
            Bestimmungen der Ordonnances Ecclésiastiques, die dafür Sorge tragen wollen, dass die Genfer
            Kirchenordnung nicht eine Utopie bleibt: Einer der wohl wichtigsten und effizientesten Artikel
            war derjenige, der verlangte, dass sämtliche Pfarrer der Stadt Genf regelmässig einmal in der
            Woche zusammenkommen sollten.

            "[...] dass alle Pfarrer, um Reinheit und Eintracht der Lehre untereinander zu bewahren, an
            einem bestimmten Wochentag zu einem gemeinsamen Schriftstudium zusammenkommen." (S.
            245.)

            Auch die Landpfarrer mussten nach Möglichkeit an diesen Pfarrkonventen teilnehmen - "ausser
            wegen Krankheit" (S. 247). Wichtig ist, dass diese Zusammenkünfte nicht nur - und nicht einmal
            in erster Linie - administrativen Massnahmen, sondern der theologischen Weiterbildung dienten.
            Noch einmal: "[...] zu einem gemeinsamen Schriftstudium." Dabei ging es nicht nur um das
            Anhören von Vorträgen, sondern reihum musste jeder eine Probe seiner eigenen theologischen
            Kompetenz erbringen:

            "Um zu sehen, wie sorgfältig ein jeder das Schriftstudium betreibt, und damit keiner nachlässig
            wird, soll der Reihe nach jedesmal ein anderer diejenige Schriftstelle auslegen, die gerade dran
            ist." (S. 247.)

            Mit Wunderer (1991, S. 206): Es war eine "Zusammenarbeit [...] über wechselseitige
            Abstimmung und Konsens". Calvin war sich offensichtlich bewusst, dass das "learning by doing"
            eine besonders wirkungsvolle Unterrichtsmethode ist. Lernprozesse werden am besten in Gang
            gebracht und Lernfortschritte am ehesten erreicht, wenn der Auszubildende aktiv und nicht nur
            rezeptiv an einer Lehr- und Lernveranstaltung teilnimmt. Es lässt sich leicht vorstellen, dass
            Calvin durch diese Massnahmen zur Fortbildung eine spürbare Anhebung des theologischen
            Niveaus der Genfer Pfarrerschaft erzielte. Bereits Zwingli in Zürich hatte unter den Namen
            "Prophezei" eine ähnliche Fortbildungsveranstaltung eingeführt! - Alle drei Monate mussten die
            Pfarrer sich darüber hinaus ausdrücklich untereinander aussprechen, um festzustellen, ob unter
            ihnen nicht ein die Gemeinschaft blockierendes Problem bestehe. Abgesehen von diesen
            Pfarrerzusammenkünften, die natürlich auch die Vereinsamung der einzelnen Pfarrer reduzierten
            (welche in diesem Beruf bis heute eine grosse Gefahr darstellt), kannten die Ordonnances
            Ecclésiastiques noch eine individuellere Art der Personalführung: Jedes Jahr einmal wurde jeder
            Genfer Pfarrer in der Stadt und auf dem Land von einer Viererdelegation des Konsistoriums -
            zwei Theologen und zwei Ratsmitgliedern - persönlich aufgesucht. Die kirchlichen "Visitatoren"
            mussten überprüfen, ob der Mann seinem Amt gewachsen sei und wie es ihm und seiner Familie
            gehe.

            "[...] um sich zu vergewissern, dass der örtliche Pfarrer keine neue Lehre vertritt, die der
            Reinheit des Evangeliums widerspricht. [...] ob der Pfarrer zur Erbauung der Gemeinde predigt
            oder ob seine Art irgendwie Anstoss erregt oder sich gar mit der Aufgabe der Unterweisung des
            Volkes nicht verträgt: etwa durch zu grosse Unklarheit, durch die Behandlung überflüssiger
            Fragen, durch zu grosse Strenge und ähnliche Fehler. [...] ob der Pfarrer gewissenhaft ist, sowohl
            im Predigen als auch im Besuchen der Kranken, im Ermahnen derjenigen, die dies nötig haben
            [...]. [...] ob er ein ehrbares Leben führt und selber ein gutes Vorbild ist; [...] ob er sich gut mit
            dem Volk versteht." (S. 249 ff.)

            Anders als man sich das Genf der Reformationszeit häufig vorzustellen pflegt, durfte ein Pfarrer
            also in seiner Predigt nicht zu "streng" sein. Und ein Seelsorger musste sich mit der
            Bevölkerung gut verstehen. Die Visitatoren mussten aber auch den Kontakt mit den
            Gemeindegliedern suchen und diese dazu anhalten:

            "[...] die Predigten fleissig zu besuchen, sie schätzen zu lernen, und für ihr christliches Leben
            Nutzen daraus zu ziehen. Es soll daran erinnert werden, worin das [Pfarramt] besteht, damit [das
            Volk] lernt, dieses Amt in rechter Weise in Anspruch zu nehmen." (S. 251.)

            Aus heutiger Sicht mag das wie eine kirchliche Misstrauenskultur aussehen. Und es lässt sich
            nicht bestreiten, dass im Zusammenhang mit den Visitationen in den Ordonnances
            Ecclésiastiques die negativen Fragestellungen überwiegen. Für die Genfer Pfarrer im Zeitalter
            der Reformation waren diese jährlichen Besuche einer fachlich hochstehenden Viererdelegation
            wohl aber in den meisten Fällen hilfreich. Nicht nur redeten die Herren aus dem Konsistorium
            auch mit der Gemeinde und versuchten dabei, das Verständnis für die anspruchsvollen Aufgaben
            des Pfarrers zu vertiefen. Der Pfarrer hatte ausserdem die Gelegenheit, seine Situation mit
            Aussenstehenden zu besprechen. Er wurde nicht erst dann besucht, wenn Klagen über ihn bei der
            Kirchenleitung eingegangen waren. Dank der regelmässigen und gründlichen Visitation konnte
            man Probleme frühzeitig erkennen und eingreifen, solange es noch möglich war, diese in einem
            guten Sinn zu lösen. Ausdrücklich wird gesagt:

            "Bei dieser Visitation soll es sich in keiner Weise um eine gerichtliche Untersuchung handeln,
            noch um irgendeine Art von Rechtssprechung; sie dient lediglich als Heilmittel [...] und vor allem
            dazu, die Pfarrer davor zu bewahren, ihr Amt in verkehrter oder nachlässiger Weise auszuüben."
            (S. 251.)

            Alle, die sich mit Führungsfragen in der Kirche (und in andern Institutionen) heute
            auseinandersetzen müssen, können in den Ordonnances Ecclésiastiques Anregendes entdecken.
            Epochemachend war:

            1. die Ämterteilung; 2. die gleichberechtigte Zusammenarbeit von Theologen und Nichttheologen
            in der Kirchenleitung (Vermeidung eines Staatskirchentums, aber trotzdem Partizipation von
            "weltlichen" Persönlichkeiten an der Kirchenleitung); 3. die Führung und Fortbildung der
            Pfarrerschaft mit dem Mittel regelmässiger und intensiver Zusammenkünfte nach dem
            Konsensprinzip; 4. ein ausgebautes Visitationssystem, das den einzelnen Pfarrrer nicht nur einer
            intensiven Kontrolle unterwarf, sondern das ihm zugleich das Bewusstsein vermittelte, in seinem
            anspruchsvollen Beruf nicht allein zu sein. Johannes Calvin hatte erkannt: Auch oder sogar
            besonders in der Kirche ist das Management von Humanressourcen ein nachhaltiger
            Erfolgsfaktor. Es lohnt sich, wenn die Kirchenleitung die in der Kirche Tätigen regelmässig
            besucht, mit ihnen spricht und ihre Erfahrungen zur rechten Zeit wahr- und ernstnimmt.

            Literatur

            Calvin, J. (1561): Ordonnances Ecclésiastiques. In: Calvin-Studienausgabe. Band 2. Gestalt und
            Ordnung der Kirche. Neukirchen (1997). S. 238 - 279.

            Ehrenzeller, E. (1993): Kirchen- und Schulgeschichte der Stadt St. Gallen. Vierter Band. St.
            Gallen.

            Grundmann, S. (1959): Geschichte der ev[angelischen] Kirchenverfassung. In: Die Religion in
            Geschichte und Gegenwart. 3. Auflage. Dritter Band. Tübingen. Sp. 1570 - 1584.

            Ignatius: Briefe. In: Fischer, J. A. (Hrsg.) (1993): Die apostolischen Väter. 10. Auflage.
            Darmstadt. S. 142 - 225.

            Kirchenagende für die Hof- und Domkirche in Berlin (1822): Ordination der Prediger, Amtseid
            bei der Ordination. In: Thelemann, H.-M./Aschermann, H. (Hrsg.) (1968): Horizonte des
            Glaubens. 2. Auflage. Frankfurt am Main, Berlin, Bonn und München. S. 230 - 232.

            Köhler. W. (Hrsg.) (1926): Das Buch der Reformation Huldrych Zwinglis. München. (Das Zitat
            wurde sprachlich leicht modernisiert.)

            Link, C. (1997): Vorwort zu: Calvin-Studienausgabe. Band 2. Gestalt und Ordnung der Kirche.
            Neukirchen. S. V - VII.

            Luther, M. (1520, 1): An den christlichen Adel deutscher Nation. In: Weimarer Ausgabe 6, S.
            404 - 465. (Alle Lutherzitate wurden sprachlich leicht modernisiert.)

            Luther. M. (1520, 2): De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium. In: Weimarer Ausgabe 6,
            S. 497 - 573.

            Luther. M. (1520, 3): Von der Freiheit eines Christenmenschen. In: Weimarer Ausgabe 7, S. 3 -
            38.

            Luther, M. (1523): Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe,
            alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der
            Schrift. In: Weimarer Ausgabe 11, S. 408 - 416.

            Luther, M. (1531/35): Galaterkommentar. In: Weimarer Ausgabe 40, 1 und 2, S. 1 - 184.

            Manns, P. (1982): Martin Luther. Freiburg im Breisgau.

            Reicke, B. (1965): Neutestamentliche Zeitgeschichte. Berlin.

            Scheuner, U. (1957): Cura religionis. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. 3.Auflage.
            Erster Band. Tübingen. Sp. 1889 - 1890.

            Schüssler Fiorenza, E. (1988): Zu ihrem Gedächtnis ... Eine feministisch-theologische
            Rekonstruktion der christlichen Ursprünge. Mainz. (Amerikanische Originalausgabe: In
            Memory of Her - A Feminist Reconstruction of Christian Origins. New York [1983].)

            Schwarz, R. (Hrsg.) (1962): Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Zweiter Band. Die
            Briefe der Jahre 1548-1555. Neukirchen.

            Thomas von Aquino: Summe der Theologie. Band 1: Gott und Schöpfung. Herausgegeben von
            Bernhart, J. Stuttgart (1985).

            Venetz, H.-J./Bieberstein, S. (1995): Im Bannkreis des Paulus. Würzburg.

            Wunderer, R. (1991): Laterale Kooperation als Selbststeuerungs- und Führungsaufgabe. In:
            Wunderer, R. (Hrsg.) (1991): Kooperation.

            Gestaltungsprinzipien und Steuerung der Zusammenarbeit zwischen Organisationseinheiten.
            Stuttgart. S. 205 - 219.

            Zwingli, H. (1524): Der Hirt. In: Huldrych Zwingli, Schriften I. Zürich (1995). S. 249 - 312. Der
            Artikel wurde gedruckt In: Rüdiger Klimecki / Andreas Remer (Hrsg.): Personal als Strategie.
            Neuwied u. a. (Luchterhand) 1997. Hier: S. 521 - 538.
     

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    AMT & DIENST  - GESCHICHTE

    Materialien zum Problem der Pfarrerdienstanweisung in der Kirche

    Amt – Ämter - Dienste – Ordination, Ergebnis eines theologischen Gespräches

    Einleitung
    Zusammenfassung des Gesprächs

    Zur Wortbedeutung des deutschen Wortes „Amt“
    Zur Bedeutungsgeschichte
    Exkurs: Das Beamtentum, seine Entstehung und sein Ethos bis ins 18. Jahrhundert
    Der Gebrauch des Wortes „Amt“ in der deutschen Gegenwartssprache
    Das Wort „Amt“ in Luthers Übersetzung des Neuen Testaments
    Das Wort „Amt“ bzw. dessen Äquivalente in neueren Bibelübersetzungen
    Erwägungen zur Bestimmung des Wortsinns und zur Ersetzbarkeit des Wortes „Amt“ in Kirche und Theologie


    Einleitung

    Die Arbeitsgruppe wurde  1976 vom Rat der EKU (Bereich DDR) und der Kirchenleitung der VELK gebildet, um die Kirchengemeinschaft, die mit der Leuenberger Konkordie erklärt wurde, weiter zu intensivieren. Dabei wurde das Thema "Amt, Ämter, Dienste, Ordination" aufgegriffen, weil man hier zwischen Lutheranern und Reformierten größere Kontroversen vermutete. Die Ergebnisse wurden 1979 als Orientierungshilfe den Mitarbeitern und Gemeindeglieder empfohlen.

    Relevante Auszüge finden sich hier aus einer privaten Abschrift.
    Sie ist weitgehend identisch mit der Veröffentlichung:
    Amt – Ämter - Dienste – Ordination, Ergebnis eines theologischen Gespräches herausgegeben von Joachim Rogge und Helmut Zeddies, Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1982, 1. Aufl.

    *******************

    IV. Zusammenfassung

    1. Die Lehrgesprächskommision, Gruppe Amt, hatte die Aufgabe, zu prüfen, ob im Themenbereich „Amt, Ämter, Dienste, Ordination“ vorhandene unterschiedliche Positionen und Tendenzen einer Intensivierung der bereits bestehenden Kirchengemeinschaft in unseren Kirchen hinderlich sind.
    Durch theologisches Gespräch sollte versucht werden, bestehende Differenzen aufzuarbeiten und dadurch das Zusammenwachsen in der Gemeinschaft von Zeugnis und Dienst zu fördern.

    2. Die Kommission ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Unterschiede in der Amtsauffassung zwischen lutherischer und reformierter Lehre in der Vergangenheit keine kirchentrennende Bedeutung gehabt haben und auch gegenwärtig kein Hindernis für intensivere Kirchengemeinschaft darstellen. Die Kommission ist der Auffassung, daß beide Traditionen jeweils wesentliche Aspekte des neutestamentlichen Zeugnisses aufnehmen.
    Deshalb ist es notwendig und sachgemäß, sie in ein Ergänzungsverhältnis zu bringen, um Engführungen zu vermeiden und den Reichtum des biblischen Zeugnisses fruchtbar werden zu lassen.

    3. Die Kommission hält es darum für erforderlich, nicht von einem isolierten Amt auszugehen, sondern die Fülle des Auftrages, der der ganzen Gemeinde gegeben ist, zum Ausgangspunkt einer Neubesinnung zu machen. Dabei versteht die Kommission das Amt von CA V als Auftrag, der der ganzen Gemeinde gegeben ist. Dies bedeutet, daß die Aufträge, die herkömmlicherweise der Pfarrer, die anderen hauptamtlichen Mitarbeiter und die übrigen Gemeindeglieder haben, aufeinander bezogen werden müssen.

    4. Die Kommission geht davon aus, daß die reformatorischen Aussagen über das Amt, aber auch die der alten Kirche und des Neuen Testamentes auf bestimmte Möglichkeiten und Gefährdungen der Gemeinde in ihrer Zeit bezogen waren. Das Amt erschien also immer in einer situationsgemäßen Ausprägung. Daher ist auch die gegenwärtige Kirche aufgefordert, ihre Möglichkeiten und Gefährdungen zu erkennen und eine der Situation angemessene Ausprägung des Auftrages zu finden.

    5. Die Kommission ist der Ansicht, daß es - ausgehend von der Zuordnung der Aufträge in der Gemeinde - notwendig ist, auch die Formen der Beauftragungen in einen engeren Zusammenhang zu bringen.

    Ausgangspunkt dafür ist der Auftrag, an dem alle Glieder der Gemeinde teilhaben. Ihm entspricht eine Fülle von Beauftragungsweisen, an denen jedes Gemeindeglied Anteil haben kann und die z. T. auch bei den offiziellen Beauftragungshandlungen vorausgesetzt werden. Solche Beauftragungsweisen können z. B. gesehen werden in der Taufe, in einem inneren Angesprochenwerden, in der Herausforderung durch eine bestimmte Situation, in der Beauftragung durch ein anderes Gemeindeglied.

    Die vielfältigen Beauftragungsweisen in der Gemeinde machen die offiziellen Beauftragungshandlungen in der Kirche nicht überflüssig. Für diese offiziellen Beauftragungen, zu denen die Ordination eines Pfarrers, die Einsegnung einer Gemeindehelferin, die Einführung eines Ältesten usw. gehören, hält die Kommission folgende Elemente für konstitutiv:

    - eine deutlich umrissene Aufgabenstellung,
    - eine Bevollmächtigung und Vergewisserung in der Form einer auf Gottes Wort gegründeten Verheißung an den Beauftragten,
    - die Zuordnung zu einem Kreis von Menschen, in dem die Aufgabe zu erfüllen ist, sowie die Einweisung in verschiedene Verantwortungsverhältnisse (Christus, Heilige Schrift, Mitbeauftragte, kirchliches Leitungsamt).

    Die offizielle Beauftragung, einschließlich der Beauftragung des Pfarrers, schließt eine Terminierung des Auftrages nicht notwendig aus. Die Frage der Haupt- oder Nebenberuflichkeit ist eine Frage, die nicht von prinzipiell - theologischen, sondern von praktischen Erwägungen her entschieden werden muß.

    Im Blick auf das Verhältnis der Ordination zu anderen Beauftragungen geht die Kommission davon aus, daß die Ordination die offizielle Beauftragung mit der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung bezeichnet. Die Kommission hält es für notwendig, daß das Verhältnis zu den anderen Beauftragungsweisen deutlicher geklärt wird, da auch andere Dienste an dem in der Ordination formulierten Auftrag teilhaben. In diesem Sinne hält sie eine Angleichung der offiziellen Beauftragungen und der in ihnen begründeten kirchenrechtlichen Verbindlichkeiten für notwendig. Sofern solche Dienste das Element der Wortkündigung und Sakramentsverwaltung enthalten und damit eine Ausübung des „Predigtamtes“ von CA V darstellen, wird eine Ordination dieser Mitarbeiter für sinnvoll gehalten.

    6. Die Kommission hält unbeschadet der unterschiedlichen Aufgaben der einzelnen Mitarbeiter ihre Einbindung in eine brüderliche Gemeinschaft für notwendig. Diese könnte ihren Ausdruck finden besonders in der Mitverantwortung für die Leitung und die Einheit der Gemeinde.
     


    Anhang zum Arbeitsergebnis der Lehrgesprächskommission  - Gruppe Amt -
     

    I. Zur Wortbedeutung des deutschen Wortes „Amt“

    1. Zur Bedeutungsgeschichte

    Lit.: Trübners Deutsches Wörterbuch, hrsg. v. A. Götze, 1. Bd., Berlin 1939, S. 73 Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, 8.Aufl. bearb. von Schirmer, Halle 1961, S.19

    1.1 Das Wort “Amt“ gehört in die Rechtssprache. Es stammt aus dem Keltischen und kommt dort ins Germanische. In der lingua gallica bedeutet das Wort ambactus soviel wie servus, „Dienstmann, Höriger“ (Trübners Dtsch. Wtb., S.73). „Die ambacti erscheinen im Gefolge des Mächtigen und geben seinem Auftreten Glanz und Rückhalt“ ebd.; vgl. Caesar, bellum Gallicum 6,15. Sie repräsentieren damit aber auch die Macht und den Anspruch ihres Herrn.

    1.2. „Amt“ bezeichnet zunächst eine Tätigkeit, zu der (unfreie) Diener seinem Herrn verpflichtet ist.“ (Ebd.) Dabei wird aber mehr und mehr an eine ständige Verpflichtung gedacht. Und sie kann auch freien Personen übertragen werden. Die lateinischen Äquivalente sind ministerium und officium.

    1.3. Das Wort „Amt“ bekam dann einen besonderen Hintergrund durch das entstehende Beamtentum und dessen Ethos.

    Exkurs: Das Beamtentum, seine Entstehung und sein Ethos bis ins 18. Jahrhundert

    Lit.: Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Leipzig / Berlin 1922, 2. Aufl.
    Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1928, 2. Aufl.

    Den ersten Staatsapparat im Sinne eines Beamtentums hat Kaiser Friedrich II. (Regierung 1211 - 1250) aufgebaut. Dieses Beamtentum löste dabei weitgehend das bisherige, auf das Lehnswesen gestützte Verwaltungssystem ab. Im Lehnswesen (Feudalwesen) empfängt der Vasall des Königs ein beneficium und verpflichtet sich gleichzeitig dafür zu Vasallendiensten. Das Lehen wird dann erblich, kann nicht veräußert, aber weitergegeben werden. Das gibt dem Vasallen eine hohe Selbständigkeit im Verhältnis zum Lehnsherrn. Das Beamtentum dagegen schließt eine sehr viel stärkere Abhängigkeit ein.

    Das von Friedrich II: aufgebaute Beamtentum gleicht einem Orden, der ständig zur unmittelbaren Verfügung des Königs steht. (Von ihm selbst als „Orden der Justitia“ bezeichnet; vgl. Kantorowicz, S. 249). Er ermöglichte eine planmäßige, zentralisierte Staatsverwaltung. Bezeichnend im Unterschied zum Lehnswesen ist für das neue Beamtentum, daß ihm verboten waren „innerhalb des Amtsbezirkes sowohl der Besitz von Geld wie von Land, jegliches Handeltreiben, jeder Kauf oder Verkauf, Tausch oder Schenkung. Selbst der Sohn durfte in der Provinz des Vaters keinen Besitz haben“ (a.a.O., S. 250). Die Beamten sollten „sich begnügen mit dem Gehalt, welches des Kaisers Gnade ihnen aussetzte“ (a.a.O., S. 250). Während der Dauer ihres Amtes durften sie innerhalb ihrer Provinz keine Ehe eingehen. Der Beamte wird aus allen privaten Verbindlichkeiten gelöst. Er soll allein dem Kaiser verpflichtet und allein von ihm abhängig sein, und so können die Beamten den Anspruch des Kaisers vertreten. Sie werden in ihrer Autorität gehoben, sie sind „Spiegelbilder“ des Kaisers und haben seine Macht und sein Recht zu repräsentieren. In ihrer Würde ist die Würde des Kaisers präsent. Beleidigungen der Beamten sind Beleidigungen des Kaisers selber. Bezeichnend ist auch: „ Keiner durfte sich in seinem Amte vertreten lassen. Für den Beamten wie für den Vertreter stand darauf Todesstrafe“ (a.a.O. S. 253). Dieses Beamtentum hatte damals nur eine gewisse Parallele: die hierarchische Organisation der Kirche.

    Das deutsche Fürstentum hat nach dem sizilischen Vorbild Friedrichs II. in der Lokal- und Territorialverwaltung ebenfalls ein Beamtentum ausgebildet, das nicht auf dem Lehnsrecht beruhte (Burgvogt; Amtmann; Vorsteher): die Ministerialität. Sie „gab dem Landesherrn das Mittel, ein Amt auf Widerruf zu übertragen und auf diese Weise die Erblichkeit der Amtsnutzung zu verhindern“ (Hartung, S.32). Der Amtsträger ist absetzbar. „Der Amtmann der deutschen Territorien übt öffentlich - rechtliche Funktionen kraft Auftrag aus“ (ebd.). Doch wirkten „lange Zeit hindurch ... noch privatrechtliche Anschauungen stark nach. Das Amt wurde vor allem als eine nutzbare Einnahmequelle betrachtet ...“ (ebd.). Die Entwicklung des Beamtentums in Preußen im 18. Jahrhundert unter Friedrich Wilhelm I. bringt eine verschärfte Auffassung vom Wesen und Ethos des Beamten mit sich. Dabei spielt auch mit, daß die preußischen Beamten zum großen Teil aus dem Militärstand hervorgingen (auf den unteren Stellen Unteroffiziere und Mannschaften). „Durch diese Kreise ist der raue militärische Ton auch in das zivile Beamtentum und in dessen Verkehr mit dem Publikum hineingetragen worden“ (a.a.O., S. 73).

    Die neue Auffassung besteht damals in folgendem: „Es handelt sich nicht mehr um ein Vertragsverhältnis, in dem sich jeder Teil zu bestimmten Leistungen verpflichtet, sondern der Beamte dient mit unbedingter Hingabe, mit Leib und Leben, mit Hab und Gut, mit Ehre und Gewissen`, wie der König selbst verlangt hat. Der Beamte dient aus Pflicht, für die Ehre. Sein Gehalt ist nur gering. Es ist Treueverhältnis, das der König mit seinen Beamten eingegangen ist, ähnlich dem, das zwischen dem König und dem Offizierskorps besteht ... . Die Beamten sind verpflichtet, dem König in allen seinen Ländern zu dienen, und gerade in ihrer Heimatprovinz werden sie nicht angestellt.“ „Für Friedrich Wilhelm I. gab es keinen ,Staatsdienst’, sondern allein den persönlichen Dienst für den König und Herrn“ (a.a.O., S. 74). Mit dem Wandel von der patrimonialen Staatsauffassung Friedrich Wilhelms I. zu der Staatsauffassung der Aufklärung bei Friedrich II., der sich selber als der erste Diener des Staates versteht, wandelt sich auch der Sinn des Beamtentums aus dem persönlichen Treueverhältnis im Dienst des Königs in den öffentlichen Staatsdienst. Das Allgemeine Gesetzbuch, dessen Entwurf in Preußen schon 1784 begonnen wurde, das aber erst 1791 veröffentlicht wurde, läßt den Wandel deutlich erkennen.

    Jetzt „wird auch das Beamtentum der Willkür des Herrschers entzogen und allein dem Staate unterstellt. Nur durch Mehrheitsbeschluß des Staatsrats, der Gesamtheit der Minister, sollte in Zukunft die Absetzung eines Beamten verfügt werden können. Aus den königlichen Bedienten, die vom König jederzeit entlassen werden konnten, sind damit Diener des Staates geworden“ (a.a.O., S.77).

    1.4. „Als sich aus den mehr privatrechtlichen Verhältnissen des Mittelalters die modernen staatsrechtlichen entwickelten, wurde die Anwendung des Wortes beschränkt auf eine offizielle Stellung in Staat, Gemeinde, Kirche, Schule usw. mit bestimmter Verpflichtung“ (Paul, a.a.O., S. 19). „Amt“ meint jetzt nicht mehr primär den Dienst, schon gar nicht mehr den eines Unfreien.
    Vielmehr ist der Beamte „freies Glied der Gesellschaft, in deren Dienst er steht“ (Trübners Dtsch. Wtb., 1.Bd., S. 73). Amt meint jetzt hauptsächlich „öffentlich - rechtliche Stellung, die jemand einnimmt. Der Dienst wird als Verpflichtung aus ihr hergeleitet“ (ebd.).

    1.5. Das Wort „Amt“ bezeichnet in abgeleiteter Weise auch „einen Bezirk, der unter der Verwaltung eines Beamten oder eines Kollegiums von Beamten steht (statt dessen auch Amtsbezirk), daher Amtshauptmann, Amtsvorsteher, Amtsgericht usw., ferner ein solches Kollegium, endlich das Gebäude, in welchem der Sitz der Verwaltung ist, vgl. Steueramt, Zollamt usw.“ (Paul, a.a.O., S. 19).
     


    2. Der Gebrauch des Wortes „Amt“ in der deutschen Gegenwartssprache

    Lit.:
    Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, 1. Band, Berlin 1964
    (Art. „Amt“ S. 120, die Ableitungen S. 121)
    Erhard Agricola, Wörter und Wendungen. Wörterbuch zum deutschen Sprachgebrauch, Leipzig, 4. Aufl. 1970

    Das Wort „Amt“ hat im Gebrauch der deutschen Gegenwartssprache laut Auskunft des genannten Wörterbuchs einerseits den Sinn von „Dienststellung, Wirkungskreis“ - es bezieht sich dabei auf die Stellung und Tätigkeit einer Person - und andererseits den Sinn von „Dienststelle, Behörde (und deren Sitz)“. Der Wortgebrauch zur Bezeichnung eines Amtsbezirkes ist veraltet. Daneben wird noch die Sonderbedeutung des Wortes angemerkt, die es bei der Bezeichnung der katholischen „Messe mit Gesang“ hat. Der Bedeutungsgehalt des Wortes „Amt“ kann aber nur dann ausreichend erhoben werden, wenn die Wendungen berücksichtigt werden, in denen das Wort auftritt. Dann werden folgende Bedeutungsmomente erkennbar:

    2.1 Das Amt ist etwas, was der Person, die es ausübt, vorgegeben ist: „das Amt eines Lehrers, eines Ministers“ usw. . Das Amt ist dabei ein Komplex von Auftrag, Aufgaben, Befugnis, Bevollmächtigung, Position, Verantwortungsbereich. Das Amt kann inhaltlich durch eine Reihe von Tätigkeiten (Funktionen) bestimmt werden, die der Amtsträger auszuüben hat. Doch lassen sich die unter Umständen erforderlichen Tätigkeiten nicht restlos im voraus festlegen, weil zum Amt ein Verantwortungsbereich gehört, innerhalb dessen selbständig vom Amtsträger gehandelt werden muß. Das Amt enthält einen Bereich, innerhalb dessen eine eigene Entscheidung und Prägung von seiten des Amtsträgers möglich ist. Ein Arbeitsverhältnis, das nur in der Ausführung von Anweisungen und fertigen Arbeitsprogrammen besteht, kann daher nicht gut als Amt bezeichnet werden.

    2.2 Eine Reihe von Wendungen bezieht sich darauf, wie das Amt zur Person eines Amtsträgers in Beziehung gesetzt wird:
    a - Das Amt wird übertragen und übernommen, unter Umständen bewirbt man sich um ein Amt.
    b - Es wird jemand in ein Amt eingeführt, eingewiesen, eingesetzt - bzw. einer tritt ein Amt an.
    c - Jemand hat ein Amt inne, bekleidet ein Amt, übt ein Amt aus; er ist im Amt; er bleibt im Amt.
    Anm.: Der Ausdruck „ein Amt bekleiden“ kommt nach H. Paul (Deutsches Wtb., Halle 8. Aufl.1961, S. 81) durch Umbildung aus der Wendung „einen mit einem Amt bekleiden“ (ursprünglich eben dadurch, daß man ihm die Amtstracht anlegt) zustande; auch hier weist der Ausdruck auf die Vorgegebenheit des Amtes hin.
    d - Jemand wird seines Amtes enthoben, entsetzt, bzw. er legt sein (oder ein) Amt nieder.

    Man beachte, daß diese Wendungen einerseits erkennen lassen, daß zum Amt eine einsetzende Instanz gehört, andererseits aber auch, daß der Amtsträger in eigener Bereitschaft das Amt übernimmt, unter Umständen aber auch niederlegen kann.

    2.3 Der, der im Amt ist bzw. ein Amt hat (durch Übertragung), hat damit eine bestimmte Befugnis bzw. eine Vollmacht, kraft derer er nun etwas gültig und verbindlich tun bzw. vollziehen kann, was einer ohne die Amtsposition nicht gültig und verbindlich vollziehen könnte.
    Daher die Wendungen,: etwas von Amts wegen verkündigen, bekanntmachen, verbieten, untersagen.
    Doch ist mit einem bestimmten Amt zugleich eine Grenze der Befugnisse und Zuständigkeiten gegeben: „Es ist nicht meines Amtes, darüber zu urteilen“ (vgl. Agricola, a.a.O., S. 23).
     

    2.4 Das Verhältnis der Bedeutungsfelder der Wörter „Amt“ und „Dienst“ (vgl. Agricola, a.a.O., S. 22 ff. und S. 134 ff.).
    Bei „Amt“ ist die Bedeutungskomponente der freien Verantwortung in der Ausübung des Amtes unbeschadet der mit dem Amt gegebenen Bindung stärker ausgeprägt als beim Wort „Dienst“, das mehr „ein abhängiges Arbeitsverhältnis“ meint. Das Wort „Dienst“ hat einen starken Adressatenbezug - vgl. die Wendungen „jemanden zu Dienst sein“, „jemanden einen Dienst leisten“ usw. -, während zum Amt mehr eine Position gehört, die ein Gegenüber zum Adressaten begründet und die Verantwortlichkeit gegenüber der Instanz einschließt, die einen in das Amt eingesetzt hat.
    Der „Dienst“ ist mehr der tatsächliche Vollzug einer Tätigkeit, während „Amt“ mehr eine Stellung meint, in der und auf Grund derer gehandelt wird. Darum meinen die Wendungen „im Amt sein“ und „im Dienst sein“ etwas sehr Verschiedenes.
     


    3. Das Wort „Amt“ in Luthers Übersetzung des Neuen Testaments

    3.1 Das Wort „Amt“ gebraucht Luther zur Übersetzung folgender griechischer Wörter:

    a - leiturgia: Luk. 1, 23; Hebr. 8, 6 (beide Male kultische Handlung)

    Dagegen übersetzt Luther leiturgia Röm. 15, 27 mit „Dienst“.

    b - oikonomia: Luk. 16, 3; 1. Kor. 9, 17; Eph. 3, 2; Kol. 1, 25 („Predigtamt“)

    c - diakonia: Apg. 1, 17; 6, 4; 20, 24; 21, 19; Röm. 1, 13 (beide Male vom Apostolat des Paulus); Röm. 12, 7 (unter dem Charismen aufgezählt); 1. Kor. 12, 5(„es sind mancherlei Ämter, aber es ist ein Herr“); 2. Kor. 3, 6 - 9

    (viermal von den diakonoi des Alten bzw. des Neuen Bundes); 2. Kor. 4, 1; 5, 18 („da Amt ...“); Eph. 4, 12; Kol. 4, 17; 1. Tim. 1, 12; 2. Tim. 4, 5.

    Anm.: In Apg. 1, 20, wo Luther übersetzte „sein Bistum empfahe ein anderer“, hat erst die Revision von 1956 das Wort „Amt“ (für episkopé) eingebracht („sein Amt empfange ein anderer).

    3.2 Charakteristische Wendungen:

    das Amt empfangen: Apg. (1, 20); 1, 17; 20, 24; Kol. 4, 17
    das Amt geben: Kol. 1, 25
    das Amt wegnehmen: Luk. 16, 3
    mir ist das Amt befohlen: 1. Kor. 9, 17
    das Amt haben: 2. Kor. 4, 1
    ins Amt (ein)setzen: 1. Tim. 1, 12
    das (redlich) ausrichten: 2. Tim. 4, 5
    das Werk des Amtes: Eph. 4, 12
    tüchtig machen, das Amt zu führen: 2. Kor. 3, 6
    Gott tut etwas durch das Amt: Apg. 21, 19.

    3. 3 „Amt und „Dienst“

    Luther gebraucht in seiner Übersetzung das Wort „Dienst“ z. T. zur Wiedergabe von griechisch douleia, aber bisweilen auch zur Übersetzung von diakonia, das sonst mit „Amt“ wiedergegeben wird. Für Luther haben die Wörter „Amt“ und „Dienst“ bei aller Bedeutungsnähe doch spezifische Bedeutungsnuancen; ob er das eine oder das andere Wort wählt, hängt davon ab, welche Bedeutungsnuance vom Kontext gefordert wird. „Dienst“ erscheint als Übersetzung von diakonia: Apg. 1, 25; (Röm. 15, 25); Röm. 15, 31 (diakonia mit Dativ des Adressaten); 1. Kor. 16, 15 (eis diakonian mit Dativ); 2. Kor. 3, 3; (2. KOR: 9, 12); 2. Tim. 4, 11 („er ist mir nützlich zum Dienst“, also mit Dativ); Hebr. 1, 14 („ausgesandt zum Dienst um derer willen, die ererben sollen die Seligkeit“); Offb. 2, 19 („Ich weiß deine Werke und deine Liebe und deinen Dienst ...“).
    Von „Amt“ spricht Luther dort, wo es mehr um die Herkunft einer Vollmacht bzw. einer Aufgabe oder um die Beziehung des Auftrages zu dem Beauftragenden geht (vgl. z. B. 1. Kor. 12, 5; „es sind mancherlei Ämter, aber es ist ein Herr“, und 2. Kor. 5, 18: Gott hat „uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt“, vgl. auch die Wendungen, die unter 3.2 genannt wurden). Er übersetzt diakonia mit „Dienst“, wenn mehr die Adressaten des Tuns im Blick sind, darum vor allem dort, wo diakonia mit dem Dativ konstruiert wird.


    4. Das Wort „Amt“ bzw. dessen Äquivalente in neueren Bibelübersetzungen

    In neueren Bibelübersetzungen wird zum Teil versucht, das Wort „Amt“ zu vermeiden und durch andere Wörter bzw. Ausdrücke zu ersetzen. Insbesondere wird dazu auf das Wort „Dienst“ zurückgegriffen.
    Ein stichprobenartiger Vergleich zeigt folgendes:

                                                              1. Kor. 12 ,5          2. Kor. 5, 18      Röm. 12, 7
    Luther und Revision 1956                  Ämter                    Amt                   Amt
    Zürcher Bibel 1931                            Dienste                  Dienst                Dienstleitung
    Herders Bibelkommentar                   Ämter                    Dienst                Dienst
    Die Gute Nachricht                           Dienst                    Auftrag              Fähigkeit, der Ge-
                                                                                                                       meinde zu dienen
    (New English Bible 1961                   service                   service              administration)

    Doch muß man beachten, daß bei dem Gebrauch des Wortes „Dienst“ auch andere sprachliche Wendungen als bei dem Wort „Amt“ nötig werden. Wenn man sagen kann „ein Amt geben“ bzw. „ein Amt übertragen“, „verleihen“, so kann man nicht auch sagen „einen Dienst geben“, „einen Dienst übertragen“ (so Herders Bibelkommentar in 2. Kor. 5, 18), „einen Dienst verleihen“ (so Zürcher Bibel 2. Kor. 5, 18), sondern man müßte dann andere Wendungen gebrauchen, wie z. B. „in (den) Dienst stellen bzw. nehmen“ (vgl. New English Bible 2. Kor. 5, 18: „he has enlisted us in this service of reconciliation“). Aber dann ist es wohl angemessener, in 2. Kor. 5, 18 die griechische Wendung didonai tén diakonian mit der deutschen Wendung „den Auftrag geben“ zu übersetzen, wie das „Die Gute Nachricht“ (Berlin 1973) tut („Er hat mir den Auftrag gegeben, diese Gute Nachricht bekanntzumachen“).
    Auch in 1. Kor. 12, 5 (Luther: „es sind mancherlei Ämter ...“) ist, wenn man das Wort „Amt“ vermeiden möchte, die Übersetzung mit „Aufträge“ dem Textzusammenhang angemessener als die mit „Diensten“, weil es hier um den Bezug zum Kyrios geht, der den einzelnen verschiedene Aufgaben stellt, durch deren Erfüllung die einzelnen dann allerdings einander dienen (helfen) sollen.
    Diese Erwägungen führen aber schon zum nächsten Punkt.


    5. Erwägungen zur Bestimmung des Wortsinns und zur Ersetzbarkeit des Wortes „Amt“ in Kirche und Theologie

    Der Gebrauch des Wortes „Amt“ in Kirche und Theologie ist heute nicht unproblematisch. Einerseits ist „Amt“ gerade in der Theologie des 20. Jahrhunderts fast zu einem Terminus geworden, der zur Theologensprache gehört und dort einen kontextunabhängigen Sinn hat (oder jedenfalls haben sollte). Aber dieses ist doch nur fast ein Terminus, da es keine wirklich allgemein verbindliche wissenschaftliche Terminologie in der Theologie (mehr) gibt, was damit zusammenhängt, daß die meisten Theologen aus verständlichen Gründen die umgangssprachliche Verständigung vorziehen (was allerdings eine gewisse Unschärfe und bisweilen Mißverständnisse mit sich bringt). In der Umgangssprache aber weckt das Wort „Amt“, sofern es dort überhaupt gebraucht wird, bei vielen unangenehme Assoziationen; es erscheint da allzusehr auf dem Hintergrund des alten Beamtentums und der neueren staatlichen Administration.

    Nun ist es durchaus möglich, unter Umständen ein anderes Wort als Terminus für die in der Theologie mit dem Wort „Amt“ gemeinte Sache einzuführen. Ein solcher Versuch setzt aber die Kenntnis aller derjenigen Bedeutungsmomente voraus, die das Wort „Amt“, sofern es dort überhaupt gebraucht wird, bei vielen ungenehmen Assoziationen; es erscheint da allzusehr auf dem Hintergrund des alten Beamtentums und der neueren staatlichen Administration. Nun ist es durchaus möglich, unter Umständen ein anderes Wort als Terminus für die in der Theologie mit dem Wort „Amt“ gemeinte Sache einzuführen. Ein solcher Versuch setzt aber die Kenntnis aller derjenigen Bedeutungsmomente voraus, die das Wort „Amt“ charakterisieren und theologisch (und kirchlich) belangvoll sind.

    Es ist darum zu erwägen, ob ein anderes Wort einige dieser für das Wort „Amt“ charakteristischen wichtigen Bedeutungsmomente hat und damit zum Vertreter für das Wort „Amt“ aufrücken kann. Wir haben also zunächst diese Bedeutungsmomente noch einmal zusammenfassend aufzuführen, um dann Ausschau nach einem anderen Wort für Amt zu halten.

    5.1 Die wesentlichen Bedeutungsmomente des Wortes „Amt“ sind

    a - Aufgabe / Auftrag
    b - (erteilte) Vollmacht
    c - Verantwortlichkeit vor der berufenen (einsetzenden) Instanz, dem Auftraggeber und Vollmacht Erteilenden
    d - Zuordnung zu einem Kreis von Menschen (Adressaten), an denen die Aufgabe zu erfüllen ist und denen gegenüber die Vollmacht besteht (Verantwortungsbereich)
    e - Position innerhalb dieses Kreises (Bereiches)

    5. 2 Welches andere Wort kann das Wort „Amt“ mit dieser Bedeutungsfülle annähernd vertreten oder ersetzen?
    Das Wort „Dienst“, das in diesem Zusammenhang oft bemüht wird, vermag das kaum ausreichend, weil ihm die Beziehung zu einem Auftraggeber implizieren kann und da es auch sehr gut das allem Tun Vorgegebene bezeichnet. Man kann einen Auftrag erteilen und übernehmen, man kann ihn erfüllen oder auch ihm nicht gerecht werden. Der Beauftragte ist durch den ihm gegebenen Auftrag durchaus von denen, die diesen Auftrag nicht bekommen haben oder die ohne Auftrag tätig sind, unterschieden, Beauftragung impliziert irgendwie auch Verantwortlichmachung und unter Umständen auch Bevollmächtigung. Vergleicht man die unter 2.2 und 3.2 aufgeführten Wendungen, durch die der Gebrauch des Wortes „Amt“ charakterisiert ist, so läßt sich für das Wort „Auftrag“ am ehesten eine Zahl entsprechender Wendungen anführen. So könnte vielleicht das Wort „Auftrag“, das im Unterschied zu dem Wort „Amt“ kaum mit negativen Assoziationen besetzt ist, das Wort „Amt“ in der theologischen und kirchlichen Diskussion ersetzen und vielleicht helfen, das Ressentiment gegen das „Amt“ abzubauen.
     

    Für die Richtigkeit der Abschrift wird keine Gewähr übernommen.

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    AMT & DIENST  -  GESCHICHTE

    Materialien zum Problem der Pfarrerdienstanweisung in der Kirche

    Dietrich Bonhoeffer - Pfarrbild  (von Heiner Süselbeck )

    - Einleitung
    - Karl Barths Begründung  von Widerstandsvermögen  pastoraler Arbeit in  „theologischer
      Existenz“ und ihre Auswirkung auf ein neues  „Pfarrbild“
    - „Theologische Existenz“ und Komponenten eines „Pfarrbildes“ bei Dietrich Bonhoeffer
          1) Gemeinsames Leben und Teamfähigkeit
          2) Das Verhältnis von Amt, Person  und Gemeinde
          3) Persönliche Voraussetzungen  für die pastorale Arbeit in  Seelsorge und Unterricht
    - Predigt und Präsenz Christi
    - Schlussbemerkung
    - Anmerkungen, Literatur
     

    Wo gab es Folgerungen in Kirche und Theologie? Wo wirkt die erschütternde Geschichte, der „Illegalen“ im Kirchenkampf in Theologie und Kirche  nach? 1

    Kein Pfarrer kann heute sein Amt allein ausrichten
    Pastoraltheologische Erinnerung an das „Pfarrbild“ der illegalen
    Theologenausbildung bei Dietrich Bonhoeffer

    Eberhard Bethge zum 90.Geburtstag


    Einleitung

    Angesichts der  Bedrohungen durch den Nationalsozialismus formulierte 1946 das Stuttgarter Schuldbekenntnis: Wir klagen uns an, dass wir nicht  mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Mit diesem Bekenntnis sollte  „ein neuer Anfang gemacht werden“  2  Den Unterzeichnern  war - wie bereits der Barmer Synode  1934- deutlich , dass ein solcher Neuanfang  nicht ohne einen „Dienst zur geistlichen Erneuerung des Pfarrerstandes“  3 geschehen konnte.Seit einiger Zeit sind es  praktische Probleme,  die nach einem neuen „Pfarrbild“ fragen lassen. Hieran anknüpfend möchte ich an pastoraltheologische Überlegungen bei Karl Barth und  bei Dietrich Bonhoeffer  erinnern.


    Karl Barths Begründung  von Widerstandsvermögen  pastoraler Arbeit in  „theologischer
    Existenz“ und ihre Auswirkung auf ein neues  „Pfarrbild“

    1933 erkannte Karl Barth es als Versuchung der  Kirche, „dass wir über der Macht anderer Ansprüche die Intensität und Exklusivität des Anspruchs des göttlichen Wortes als solche nicht mehr und damit dieses  Wort sofort überhaupt nicht mehr verstehen.“4  . Die Ideologie des National-sozialismus  gefährdete die Fähigkeit von Kirche und Pfarrerschaft, den kritischen Anspruch und Zuspruch von Gottes Wort  auch nur wahrzunehmen. Barth empfahl darum den Pfarren seiner Zeit, sich auf ihre „Theologische Existenz“ zu besinnen. Den allenthalben auch bei den „Deutschen Christen“ zu hörenden Rufen nach einer Kirchenreform hielt er entgegen, dass Kirchenreform  aus dem „Gehorsam“ gegen Gottes Wort kommen müsse, ansonsten sei sie keine „K i r c h e n reform“ 5 .

    Der erste Schritt dazu sei die „Theologische Existenz“ ihrer Amtsträger: „Wo die heilige Schrift Meister ist, da ist theologische Existenz, und wo theologische Existenz ist, da mag es zur Kirchenreform aus dem Leben der Kirche kommen.“ 6 Mit diesen Gedanken forderte er dazu auf, „ allein der Sache des Evangeliums Gehör zu schenken.“ 7 Im Vordergrund dieser Bemühung stand der Aufruf  zu sachlich-theologischer Arbeit , um die Bibel zu verstehen und die Frage beantworten zu können „was uns Christus heute eigentlich bedeutet“ (Bonhoeffer). Barth setzte dabei voraus, dass der Gegenstand „theologischer Existenz“, mit dem die Pastoren und Theologinnen der Bekennenden Kirche bei entsprechender Konzentration zu tun bekämen, nicht nur
    „Objekt“ ihrer Bemühungen bleiben würde, sondern, dass sie durch ihn die selbst „vom Evangelium  befragten“ werden  würden.8

    Für Überlegungen zur Gestaltung des „Pfarrbildes“  ist es bedeutsam, dass sich bereits mit Karl Barths ersten  Gedanken  zur Grundlegung  pastoraler Arbeit als „theologischer Existenz“ eine Entkoppelung von Predigt - und Pfarramt abzeichnete. Unabhängig von Barths ersten Anstößen warf die illegale Theologenausbildung der Bekennenden Kirche  die Frage nach einer Differenzierung von Pfarramt und Predigtamt auf.

    Besonders den Kandidaten um Bonhoeffer in Finkenwalde wurde klar: Der Dienst an Wort und Sakrament  ist für eine Kirche unverzichtbar, aber es steht nirgendwo geschrieben, dass sich dieser Dienst mit den Strukturen eines verbeamteten Standes von PfarrerInnen für immer verbinden muss! „Das Predigtamt ist (neben der Sakramentsausteilung) eine substantielle (iure divino) Form der Wortverkündigung und damit unaufgebbar... Das Pfarramt ist dagegen nach Bonhoeffers Auffassung eine akzidentielle Form und damit verzichtbar.“9

    Sowohl die vocatio externa wie auch die vocatio interna ist „ Berufung zum Predigtamt, nicht zum Pfarramt.  Beides ist nicht identisch, Pfarramt und Predigtamt. Pfarramt ist die gegenwärtige Form, die nicht unbedingt gültig ist. Mit der Niederlegung des Pfarramtes, ist man doch nicht vom Predigtamt entbunden.!“10

    Mir scheint in dem Zusammenhang von Bedeutung , dass die  Glaubwürdigkeit der Bekennenden Kirche und die Aufnahme des deutschen Protestantismus  nach dem Krieg in den  Kreis der Ökumene  mit darauf zurück zu führen ist, dass sie  ein „Pfarrbild“ zu entwickeln vermochte, demzufolge PredigerInnen sich während der Nazi-Herrschaft aus geistlichen Gründen in der Lage sahen, „auf eine beamtenähnliche gesicherte Existenz zu verzichten“. Die Wahrnehmung ihres Predigtamtes „ruhte auf einer ‘illegalen’ Prüfung und Ordination. Mitunter waren die Provinzialbruderräte nicht einmal in der Lage, die Gehälter aufzubringen.“ 11

    Heute werden diese Gedanken unter der Überschrift „Pfarrdienst als Ehrenamt“  zaghaft aufgegriffen und finden zB  in der Berufung kompetenter PrädikantInnen und in der  begrenzten Beauftragung pensionierter SeelsorgerInnen erste praktische Resonanz.

    In dem Zusammenhang sei an Eberhard Bethge erinnert, der im Blick auf  Gedanken über das „Pfarrbild“ der Bekennenden Kirche in seiner Biographie über Dietrich Bonhoeffer  die kritische Feststellung traf:“ Nach dem Krieg beeilten sich die Konsistorien, dem verbliebenen Rest der Illegalen die Anstellungsfähigkeit, die Dienstalterrechte und alles was zum privilegierten Pfarramt gehört, bedingungslos zuzusprechen. Kaum jemand dachte daran, sich Rechenschaft drüber zu geben, welche Konzeption  eines neuen Predigtamtes einst hinter den bitteren und langwierigen Kämpfen gestanden hatte, und was damit gemeint gewesen sein mochte.“12


    „Theologische Existenz“ und Komponenten eines „Pfarrbildes“ bei Dietrich Bonhoeffer

    „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen muss sie alles Eigentum den Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben, evtl. einen weltlichen Beruf ausüben....Speziell wird u n s e r e Kirche den Lastern der Hybris... als den Wurzeln allen Übels entgegentreten müssen. Sie wird von....Bescheidenheit sprechen müssen. Sie wird die Bedeutung des menschlichen Vorbildes (das in der Menschheit Jesu seinen Ursprung hat und bei Paulus so wichtig ist) nicht unterschätzen dürfen. Nicht durch Begriffe, sondern durch Vorbild bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft“13

    Bonhoeffer legte diese Gedanken nieder, um das  Profil einer kommenden Evangelischen Kirche in Deutschland  zu schärfen. Das in ihnen enthaltene Konzept  eines Pfarrberufs ohne Privilegien  war für ihn  die äußerste mögliche Konsequenz aus dem ,was er versucht hatte, als „Theologische E x i s t e n z in der von ihm verantworteten „Illegalen Theologenausbildung“  zu vermitteln. Auch ihm lag „alles an der Erneuerung der Kirche und des Pfarrerstandes“14

    Wesentlich war in seinen Augen ,dass Pfarrer es lernen, ihr „ganzes Leben“ in den Dienst ihres Amtes zu stellen.. Dienst  „unter dem Wort Gottes“ könne nicht anders geleistet werden.15 Neben den obligaten Studien  (Bibel und Bekenntnisschriften, eingehender „Kenntnis der Weltanschauungen der Gegenwart“ und Auswendiglernen von 30 (!!) Gesangbuchliedern) wurde der Kandidat „in einen durch Morgen und Abendandacht, durch feste Meditationszeit streng geordneten Tageslauf hineingestellt.“ Dabei sollt er „in täglicher Gemeinschaft des Gebetes, des Gottesdienstes und der Arbeit   (Hervorhebung H.S.) lernen, gute Bruderschaft zu halten und zu jedem , auch dem geringsten Dienst an den Brüdern bereit sein.“16

    Karl Barth  erhob  Bedenken gegenüber den Methoden ,mit denen Bonhoeffer in Finkenwalde seine Kurse für die Kandidaten gestaltete. Ihn störte der  „Geruch eines klösterlichen Eros und Pathos“ an dem, was er von diesen Kursen gehört und  gelesen hatte. Gleichzeitig bat er  Bonhoeffer jedoch zu berücksichtigen, dass seine Bemerkung keine Kritik an dessen Bestrebungen sein sollte, weil Barths  „Unterlagen zu deren Erkenntnis und Verständnis...viel zu schmal waren“ 17 .  30 Jahre später vermochte Barth  allerdings  klösterliches Leben als „einen Rückzug mit dem Zweck eines um so kräftigeren Vorstoßes“ zu würdigen 18 . Er lag damit auf der Linie, mit der Bonhoeffer die Einrichtung des Bruderhauses in Finkenwalde gegenüber dem  Bruderrat der APU begründete: “Nicht klösterliche Abgeschiedenheit, sondern innerste Konzentration für den  Dienst nach außen ist das Ziel.“19 .

    Barths Kritik :“Ich kann eben schon die grundsätzliche Unterscheidung zwischen theologischer Arbeit und erbaulicher (Schrift-) Betrachtung...wie ich sie auch in Ihrem Brief wahrnehme nicht mitmachen.“20 wird Bonhoeffer getroffen und beschäftigt haben. Wie eine mögliche Antwort auf diesen Vorhalt liest sich Bonhoeffers später noch einmal vor seinen Kandidaten deutlich ausgesprochene Unterscheidung zwischen Theologie  und geistlicher Haltung : Für ihn hat ein Pfarrer als  Nur- Theologe   „keine Erfahrung mehr von Gott, Christus, Anfechtung und ihrer Überwindung, sondern seine einzige Erfahrung bleibt die Reflexion über diese Dinge“ 21 .

    Dazu lässt sich  eine  Ausarbeitung des späten Barth über die „Gefährdung der Theologie“: wie eine  nachträgliche Zustimmung lesen: Demzufolge  ist es eine  Gefährdung der Theologie, Hinweise auf Gott wie „ Spielmarken ... nach Laune und Belieben auf den Spieltisch des allgemeinen Geredes“ zu werfen .  Doch dann kann „Gott nicht für , nicht mit den Theologen und ihrer Theologie, sondern nur gegen sie sein.“ 22 Auch Barth ging es wie Dietrich Bonhoeffer um eine geistliche Erneuerung der Pfarrerschaft , und damit gegen das „Schisma von Lehre und Leben“23 .

    Im Folgenden möchte ich einige Befunde aus der Erforschung von Bonhoeffers Pastoraltheologie  herausgreifen, um sie mit Punkten der Diskussion um ein heutiges Pfarrbild in Verbindung zu bringen.


    1) Gemeinsames Leben und Teamfähigkeit

    Bestandteil der Ideologie des Nationalsozialismus war das Idealbild von Autarkie und Selbstver-sorgertum. Dem lag ein bürgerlicher Individualismus zugrunde , der auch für die Ausrichtung des Pfarrberufs prägend wurde , gleichzeitig aber äußerst problematische Konsequenzen in sich barg . Solche  Vorstellungen gingen mit einem Menschenbild einher, das sich Schwäche und das Angewiesensein auf Unterstützung durch andere als  einem wesenhaften Zug von Arbeit und Beruf   nicht eingestehen konnte. Leitbild des Pfarrers wurde der einsam agierende Genius, mit dessen Persönlichkeit die ganze Gemeinde stand oder fiel. Dem hielt Bonhoeffer in seinem „Entwurf zu einer Kanzel-Abkündigung nach einem Umsturz“ Ende 1942 entgegen:„Kein Pfarrer kann heute sein Amt allein ausrichten“ 24 .

    Erstes  Lernziel der Theologenausbildung war darum für Bonhoeffer „ein gemeinschaftliches Leben im täglichen strengen Gehorsam gegen den Willen Jesu Christi“ Hierzu  war es notwendig, im Alltag einander „geringste“ und „höchste“ Dienste zu leisten. So sollten die ihm anvertrauten Theologen lernen, welche „Kraft...in dem gemeinsamen Leben einer christlichen Gemeinde liegt“.25

    Das zweite Ziel war „der Wahrheit allein zu dienen“, dazu bedurfte es der „Erforschung der Schrift und ...ihrer Auslegung in Predigt und Unterricht“. Bezeichnender Weise fügte Bonhoeffer hinzu, dass er diese ihm persönlich obliegende Aufgabe „nicht allein“ zu bewältigen vermochte: „Es muss dazu ein Stamm von Brüdern dasein, die ohne Worte zu machen durch ihr Zusammenleben die anderen mit hineinziehen. Das ist das Bruderhaus.“26

    Gegenüber Karl Barth gestand Bonhoeffer freimütig ein, dass er die kirchliche Aufgabe an der Zurüstung der ihm anvertrauten jungen Theologen „leider auch nicht richtig“ wahrnehmen könne. Dann fuhr er jedoch fort:“... aber ich weise die Brüder aneinander, und das scheint mir das allerwichtigste“27

    Isolation war in  Bonhoeffers Augen  die größte Gefahr für den Beruf des Theologen im Pfarramt. “Nur wer selbst einen Seelsorger hat, kann selbst Seelsorger sein“28 .Erstaunlich ist , dass er in diesem Zusammenhang daran erinnern konnte, dass Laien zu Pastoren für Pastoren werden können, Auch sie stehen in der Beichte an Gottes Stelle. Grundsätzlich gilt:“ Jeder Bruder kann Beichte hören.“29

    Mit der Betonung der Beichte als wesentlicher Voraussetzung  christlicher Geschwisterlichkeit verliert eine so gegründete „Teamfähigkeit“ den Anschein einer Harmonie, die   vom  Blick auf  geglückte  Erfolge und starke,gemeinsame  Effizienz lebt. Denn “Erst Beichte gründet Gemeinschaft“ 30  und das bedeutete „aufs Tragen ...kommt es an“31 . Oder wie es in Bonhoeffers Programmschrift „Gemeinsames Leben“ heißt: „Nur als Last ist der Andere wirklich Bruder und nicht beherrschtes Objekt...Auffallend oft spricht die Schrift vom Tragen. Sie vermag mit diesem Wort das ganze Werk Jesu Christi auszudrücken.“32


    2) Das Verhältnis von Amt, Person  und Gemeinde

    Pastorale Arbeit  ist darum nicht als „Repraesentatio“, sondern von der „Praesentia Christi“ in Amt, Gottesdienst und Gemeinde her zu bestimmen  Andernfalls bestünde die Gefahr,“ Christus zur doctrina“ absinken zu lassen.33

    Die Gegenwart des Auferstandenen im Leben der Kirche ist Ausdruck einer Herrlichkeit, die in der Gestalt der Niedrigkeit lebt. Darum kann Bonhoeffer  Kirche als Kirche ohne „Privilegien“34 und damit auch den Dienst ihrer Pfarrerschaft als Dienst ohne Privilegien sehen und interpretieren. Die „hohe Würde des Amtes“ liegt in der conformitas und setzt darum bei ihrer Trägern eine „Gleichgestalt mit Christus voraus.“ 35 . Den ihm anvertrauten jungen Pastoren, ihren Bräuten und Familien lieferte Bonhoeffer keine Durchhalteparolen, damit sie  geduldig  nach einem ruhigen Pfarramt und einer sicheren Pfründe Ausschau halten konnten. Nicht von der politischen Situation, sondern vom Evangelium her  versprach er ihnen   Armut als  das Zeichen ihrer Würde:

    „Jesu Bote zu sein verleiht keinerlei persönliches Recht, keinen Anspruch auf Ehrung oder Macht. Auch wo aus dem freien Boten Jesu der beamtete Pfarrer geworden ist, ist das nicht anders. Die Rechte des studierten Mannes, die gesellschaftlichen Ansprüche eines Standes haben für den, der Jesu Bote geworden ist keine Geltung mehr...Die Freiheit der Boten Jesu, soll sich in ihrer Armut erweisen...Damit werden sie die Botschaft glaubwürdig machen, die sie verkündigen.“ 36

    Erst recht waren durch diesen Ansatz etwaige Allüren auf Anmassung eines wie auch immer gearteten Amtsdünkels abgewiesen: Im Dienst der Kirche ist „kein Standesbewußtsein möglich“37 . Ihre “Dienstbezeichnungen beschreiben einen bestimmten Dienst“ und „sind nicht Ehrentitel“ 38 .  Nicht ein Lebensstil , bei dem ,wer ein Pfarrhaus betritt „immer in der Angst schwebt, ob man sich richtig benimmt“ 39 , ist Grundlage eines solchen Amtsbewussteins, sondern einerseits die Berufung durch die Kirche (vocatio externa) und das Bewusstsein persönlicher Berufung (vocatio interna). die sich auch in Notzeiten durchhält.

    Die mit Bonhoeffers  Amtsverständnis verbundene Autorität pastoraler Arbeit bleibt, weil sie an der Seite ihrer Gemeinde der Bibel unterworfen bleibt, jedoch relativ. Die Gewissheit innerer Berufung, macht  PredigerInnen zum kritischen und freien Gegenüber ihrer Gemeinden. Das lässt sie jedoch nicht in die Distanz bürgerlicher, ständischer  Autonomie zu deren Leben  treten.

    Unter der Maßgabe biblischer Orientierung haben Kirche und Gemeinde das Recht  und die Pflicht, über  die Amtsausübung eines Dieners bzw einer Dienerin am Wort zu urteilen. Das subjektive Moment einer Berufung entbindet AmtsträgerInnen nicht, sich dem Urteil ihrer MitchristInnen über ihre Arbeit zu stellen. “In der Schlüsselgewalt der Gemeinde liegt ihre Pflicht zum Urteilen über die Lehre begründet.“40 . Im Blick auf die Kriterien für eine solche Beurteilung und deren Handhabung  findet  sich bei Bonhoeffer eine Art „Faustregel“:

    „Zur Absetzung auf (sic!) Irrlehre hat die Gemeinde Pflicht,
    zur Absetzung aufgrund von Wandel Recht,
    zur Absetzung aufgrund von Gaben nur die Bitte“41

    Zu letzterem gibt  Bonhoeffer  zu bedenken: „Ein alter oder stotternder etc . Pastor muß von der Gemeinde, wenn er nicht krank
    wird, getragen werden.“ 42  Für Fälle eines offenkundig eingetretenen Mangels an Gaben (die sich nicht als Erkrankung erheben lassen) gibt es „kein reguläres Absetzungsverfahren“43  „Greift die Gemeinde in solchem Fall in das Amt ein, so überschreitet sie ihre Kompetenzen und wird am Stifter des Amtes schuldig“ Der Rücktrittsgrund läge dann „nicht in einem Defekt“ der Person, „sondern in dem der Gemeinde: in ihrer Schwäche diesen Menschen im Amt zu tragen.“44 „Faulheit“ ist allerdings kein  zu tragender Mangel. In diesem Fall verstößt ein Amtsträger „gegen den Wandel“ 45 und die Gemeinde hat das „Recht“ zur Absetzung.


    3) Persönliche Voraussetzungen  für die pastorale Arbeit in  Seelsorge und Unterricht

    Bonhoeffers eigene geistliche Entwicklung 46 legt es nahe, an dem Grundsatz festzuhalten: „Über den Weg der inneren Berufung gibt es keine Gesetze“ 47 .Gleichwohl  lassen sich  in seinen Vorlesungen und Mitteilungen vier  Kriterien erkennen , deren Erfüllung einen Pfarrer oder eine Pfarrerin davor bewahren, dass ihnen ihr Amt zum „Fluch“48  wird:

    1.Das Gefühl eigener Unwürdigkeit in bezug auf seine Person, seinen Glauben, seine Eignung, seinen Dienst.
    2.große Liebe zum Amt und zur Gemeinde
    3.persönliches Leben mit Bibel und Gebet
    4.das Wissen um den „character indelebilis“ (im Verständnis der Unwiderrufbarkeit der vocatio) 49

    Wie in einem Brennpunkt verlangt die Erfüllung dieser  Kriterien nach  Beantwortung der Frage  „Wie lerne ich beten?“ Und : „Wie  lerne ich die Schrift lesen?“50  Denn „Selbstverständlich ist da wirklich garnichts.51 “ Bonhoeffer war der Meinung: Die Verantwortlichen für die Aus- und Fortbildung von TheologInnen „können ihnen da helfen“ oder „helfen ihnen überhaupt nicht.“52 Unter  der Voraussetzung  einer diesbezüglichen Disziplin durch ein „Gemeinsames Leben“  übte er mit den Kandidaten seiner Kurse die Einhaltung bestimmter Meditationszeiten. Dazu empfahl er die  Betrachtung der Hlg. Schrift in dreifacher Hinsicht: „Der Pfarrer begegnet der Bibel in dreifachem Gebrauch: sie liegt auf der Kanzel, auf dem Studiertisch und auf dem Betpult.“53

    Dabei sah Bonhoeffer  durchaus die Möglichkeit  , dass die Bibel   „wie jedes andere Buch“ auch literarisch bzw. historisch-kritisch gesehen und gelesen werden konnte. “Dagegen ist gar nichts zu sagen.“ Doch wer dabei stehen bleibt, sollte sich im darüber im Klaren sein,“ dass das nicht der Gebrauch ist, der das Wesen der Bibel erschließt, sondern nur ihre Oberfläche. Wie wir das Wort eines Menschen, den wir lieb haben, nicht erfassen, indem wir es zuerst zergliedern, sondern wie ein solches Wort einfach von uns hingenommen wird und wie es dann Tage lang in uns nachklingt, einfach als das Wort dieses Menschen, den wir lieb haben, und wie sich uns in diesem Wort dann immer mehr, je mehr wir es „im Herzen bewegen“ wie Maria, derjenige erschließt, der es uns gesagt hat, so wollen wir mit dem Wort der Bibel umgehen.“ 54

    Es ging Bonhoeffer darum, “dass Gegenstände der Theologie nur wirklich zugänglich werden, wenn man sie vollzieht.“55 Neben einer (von E.Bethge mitverfassten) Anleitung für die einzelnen Schritte zur Meditation eines Bibelwortes56 wurden darum in Finkenwalde feste Zeiten regelmäßiger Schriftbetrachtung eingehalten. Das Gleiche galt von Gebetszeiten „Bonhoeffer legt sie am Anschluss an Luther in die Morgenstunde“57 , denn er war der Auffassung: “Vor die tägliche Arbeit gehört das morgendliche Gebet.“58

    Insbesondere der Dienst regelmäßiger Fürbitte gehörte für ihn mit zu dem Grundbestand der Seelsorge. Dieser Dienst war ihm gleichsam  der Königsweg zur Annahme einer Person in ihrer Fremdheit und ihrem Anderssein. “Es führt kein eigener Weg von Mensch zu Mensch. Die liebevollste Einfühlung, die durchdachteste Psychologie, die natürlichste Offenheit, dringt nicht zum anderen Menschen vor. Es gibt keine seelischen Unmittelbarkeiten...Christus steht dazwischen. Darum ist die Fürbitte der verheißungsvollste Weg zum Nächsten“ 59

    Die persönliche Grundhaltung aus der heraus  im Pfarrberuf  Konfirmandenunterricht erteilt wird, verankert sich  für Bonhoeffer in gleicher Weise wie die Seelsorge  Wer kirchlichen Unterricht erteilt ist in geistlicher Hinsicht den zu Unterrichtenden in nichts überlegen, sondern der Pfarrer steht als Person „mit den Kindern auf einer Ebene: Er ist ein Hörer der Verkündigung wie sie“60 .Kirchliche ErzieherInnen sind trotz ihrer Berufung der Feindschaft des natürlichen Menschen  gegen Gott  nicht enthoben. Darum bleiben Lehrende ihren Zöglingen in deren möglicher Skepsis gegen Evangelium und Kirche stets nahe. Weil auch sie   nur  um Erbarmen und Glauben beten können, egalisiert sich die  geistliche  Kompetenz von kirchlich Unterrichtenden gegenüber  ihren Schülern und Schülerinnen .PfarrerInnen sind keine   Gurus, die aus einem höheren Stand  der Erleuchtung heraus göttliche Lehren an niedere Kasten vermitteln- selbst, wenn sie über kognitive Vorsprünge , eine wissenschaftliche Ausbildung und mehr geistliche Erfahrungen verfügen sollten.

    Das soziale Klima , in dem  PfarrerInnen  Unterricht erteilen, ist im Wesentlichen die Atmosphäre  solidarischer Gemeinschaft. Der Erzieher hat „in der Kirche keine eigene Autorität zu beanspruchen..“61  Besonders an dieser Stelle ist für pastorale Arbeit „kein Standesbewusstsein möglich“.62 Kirchlich Unterrichtende sind „Stellvertreter der Katechumenen“ 63  . Deren Zweifel am Sinn von Glauben und Leben, deren Ängste und  Fragen  gegenüber Gott und dem Leben der Kirche bleiben auch die ihren  und sollten in die Planung des Unterrichtsgeschens mit eingehen. Wo das  Pro Nobis Gottes für  Unterrichtende  und  Kinder als eine beide Seiten gemeinsam  tragende Grundlage angesehen werden kann, da wird „im Religionsunterricht Kirche“.64 Auf dieser Basis  sind die weiteren notwendigen didaktischen und methodischen Schritte für einen lebendigen Unterricht in Angriff zu nehmen.


    Predigt und Präsenz Christi

    „Christus geht als Predigt zur Gemeinde , um die Gemeinde anzunehmen und zu tragen“65 lautet ein programmatischer Satz Bonhoeffers aus seiner Homiletik-Vorlesung. Deswegen ist es die erste Aufgabe des Predigers dem nichts Eigenes „entgegensetzen und eigene Bewegungen vollziehen“ zu wollen.66 Eine Predigt vorbereiten heißt, zunächst anhand eines bestimmten Bibelwortes in sich selbst dem  kommenden Christus Raum ( bzw. Zeit) zu geben. „Selbstverständlich“ ist auch „da wirklich garnichts.“67 (s.o.) und es „muss wenigstens zwölf Stunden daran gearbeitet werden“68 Neben den  exegetischen Vorarbeiten  bleibt es für die Vorbereitung wichtig, den  auszulegenden Text  „wie einen Liebesbrief“ zu lesen und zu verstehen. (unter  Berufung auf Kierkegaard )69 .

    Neben den konkreten Fragen wie zB „Was sagt der Text über Gott?“ und „Über den Menschen“ 70 ist die Frage zu beantworten, wo die Person des Predigers   dem Text im Wege steht und stehen möchte:
     „Wo bin ich in der Gefahr, in der Predigt dieses Textes unwahrhaftig zu werden, den Text um meinetwillen umzubiegen, abzuschwächen, weil ich nicht damit fertig werde? Etwas zu sagen, was ich nicht glauben kann, worin ich nicht gehorsam sein will?“71

    Der nächste Schritt ist das Bedenken dessen was dies Bibelwort  der Gemeinde sagt. Dabei ist an deren Nöte und an „besondere Menschen unter der Kanzel“ zu denken: „Die darf man bei der Ausarbeitung der Predigt durchaus vor Augen haben.“72   Als pastoraltheologische  Weisheit  ist  auch der   Rat bedenkenswert:„... spätestens Freitag fertig sein!“ und die Predigt nicht an einem Stück herunterschreiben zu wollen. Für den Samstag sollte man im Blick auf die eigene innere Vorbereitung des Sonntaggottesdienstes „jede Einladung in der Gemeinde absagen.“ . Vor allem den „Sonnabend Abend“ sollten PastorInnen  „unter allen Umständen frei  halten“ 73 So sehr eine  Predigt erst „auf der Kanzel“ entsteht, sosehr entsteht sie auch in der „Pfarrstube“. Die beste Vorbereitung am Schreibtisch schenkt „größtmögliche Sachlichkeit auf der Kanzel“.74

    Bei allem Respekt  vor den Bemühungen um  Vorbereitung einer guten Predigt, müssen sich Prediger und Gemeinde jedoch grundsätzlich darüber im Klaren bleiben:“ Die Predigt ist wie die Gemeinde und ihre Sakramente eine aktuelle Erniedrigungsgestalt des Inkarnierten.“75 Das bedeutet  für die subjektive Seite des Dienstes an der Predigt :“Der Pfarrer, der mit seiner Predigt immer zufrieden ist“76  ist die größte Gefahr des Predigtgeschehens im Leben seiner Gemeinde. Gegen das subjektive Moment der Predigt sind  darum im Gottesdienst  objektive und sachliche Vollzüge als ständige Widerlager einzurichten.

    „Es gibt für den Pfarrer selbst keine größere Befreiung von der Unruhe nach der Predigt, als wenn er im Anschluß ... das heilige Abendmahl austeilen darf. Hier wird er befreit von der Angst der Subjektivität; gedeckt durch das Wort der Kirche, Werkzeug des Gottes, dessen Wort er zu predigen hat, erfährt er die Gnade, dass er seiner Sünde zum Trotz Diener dieses Wortes bleiben darf.“77 So gesehen ist die Predigt Tischrede. Sie hebt hervor, was Christus im Abendmahl für seine Gemeinde ist und tut . Das „Wort in Predigt und Abendmahl will zur Gemeinde“ (Hervorh.v.Vf)78 Bonhoeffer zog daraus den Schluss , dass man  „jeden Sonntag Abendmahl nehmen“79 müsste. Deshalb  gab er seinen Schülern den Rat ,vom allsonntäglich gefeierten Abendmahl her  die „Predigtgottesdienste“ zu „renovieren“ 80 .Denn „die christliche Gemeinde ist im eigentlichen Sinn Tauf- und Abendmahlsgemeinde, und erst von hier aus Predigtgemeinde“81

    Bonhoeffers Gedanken treffen sich in dieser Hinsicht mit Überlegungen K.Barths.1938 erschienen die „Gifford Lectures“, die Barth 1937 an der Universität Aberdeen gehalten hatte. Hier führte Barth zur Abendmahlspraxis in der ev.Kirche aus: “Wir haben eine Predigtgottesdienst ohne Sakrament. Wir sahen, dass die Taufe und das Abendmahl sozusagen den natürlichen Raum des kirchlichen Gottesdienstes bilden. Dieser Raum ist aber in unserem protestantischen Gottesdienst in der Regel unsichtbar geworden. Wir wissen nicht einmal mehr, dass ein Gottesdienst ohne die Sakramente ein äußerlich unvollständiger Gottesdienst ist. Wir feiern mit der größten Selbstverständlichkeit in der Regel solche äußerlich unvollständigen Gottesdienste. Mit welchem Recht tun wir das eigentlich?...Würde die Predigt nicht ganz anders gehalten und gehört ...werden, wenn das alles auch äußerlich sichtbar...dem Abendmahl entgegenginge?“82 Ähnlich äußerte sich Barth in hohem Alter: „Alle Sonntage muss es darum Kommunion in der Kirche geben. Es darf in ihr nicht nur geredet, sondern es muss in ihr auch Handlung geben. Wenn das nicht alle Sonntage geschieht, dann ist die Kirche arm, dann geht es unordentlich in ihr zu.“83

    Gute Predigten und (damit auch deren PfarrerInnen) hängen „von der Existenzform der Kirche ab“ Sie werden darum von deren „Fremdlingscharakter in der Welt“84 nicht absehen können.„Nicht bürgerliche oder proletarische Existenz der Kirche, sondern eine in ihrer Existenz nachfolgende Kirche“85 wird deren Dienst vorzeichnen und ihr Wort hören.


    Schlussbemerkung

    Wer die Vorlesungen , Aussprachen und Mitteilungen Bonhoeffers aus Finkenwalde und den  Sammelvikariaten durcharbeitet, wird aus heutiger Sicht bei rein praktischem Interesse enttäuscht sein.  In ihnen lassen sich nicht    Tips  finden , die PastorInnen garantiert volle Kirchen , packende Predigten ,effektiven  Konfirmandenunterricht und glückende  Seelsorge versprechen.  Eine gesteigerte, rein pragmatische Kompetenz  für den Pfarrberuf konnte und wollte die illegale Theologenausbildung  bei Dietrich Bonhoeffer nicht vorzeichnen.  Aber sie blieb dem auf der Spur,  was pastoraler Arbeit durch die  „Kraft der Kapelle“86  und  der in ihr versammelten Gemeinde  verheißen ist. Deren geistliche Übungen waren die Kraftquellen für einen Widerstand, dem politische Sprengkraft innewohnen konnte, weil er - auf solche Weise getragen-  „gelassen“87 auf  Privilegien verzichtete.

    Was dies für die gegenwärtige Diskussion um ein Pfarrbild der Zukunft bedeutet, wird eine Diskussion zeigen, die unter Mißachtung dieses Erbes armseligen Charakter bekäme. Denn: „Vult ergo agnosci in suis ministris Christus, sed ita ut solus maneat Dominus“ 88 (Also will Christus in seinen Dienern erkannt und anerkannt sein, doch so dass er allein der Herr bleibt.) Das bedeutet, dass ein herkömmliches „Pfarrbild“ verblassen , wenn nicht sogar ganz verschwinden kann. Bleiben wird jedoch die öffentliche Berufung zu einem kirchlichen Dienst an Wort und Sakrament und der damit verbundenen besonderen Verantwortung.


    Anmerkungen

    1 Anhang,Die Illegalen im Kirchenkampf, in: Predigtamt ohne Pfarramt,Die „Illegalen“ im Kirchenkampf
    hg.v.K.A.Bauer,Neukirchen-Vluyn,1993, 192
    2  zit.nach Kirchen-und Theologiegeschichte in Quellen IV/2 Neuzeit.hg.v.H.W.Krumwiede,M.Greschat u.
    A.Lindt,Neukirchen -Vluyn,1980,163 vgl die 1947 erschienene Studie von J.Schniewind „Die geistliche Erneuerung des
    Pfarrerstandes (abgedruckt in : ders.Geistliche Erneuerung (Lesezeichen),Göttingen 1981,123ff und die auf der Barmer Synode
    1934 verabschiedete „Erklärung zur praktischen Arbeit der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche“ in ihrem
    Unterpunkt I „Der Dienst zur geistlichen Erneuerung des Pfarrerstandes“ in „Die Barmer Theologische Erklärung, Einführung und
    Dokumentation, hg.v.A.Burgsmüller u.R.Weth,Neukirchen-Vluyn,1983,66,neuerdings umfassend und weiterführend interpretiert
    durch K.A Bauer,in K.A Bauer/M.Josuttis Daß du dem Kopf nicht das Herz abschlägst,Theologie als Erfahrung, Erwägungen
    zum Pastoralkolleg als Ort erfahrungsbezogener Theologie, Presseverband der Ev.Kirche im Rheinland,1996,25ff
    mit Ausführungen zu pastoraltheologischen Ansätzen  von D.Bonhoeffer und G.Merz.
    3  s.Anmerkung 2
    4 K.Barth,Theologische Existenz heute! ThEx,Heft 1,München,1933,5f
    5 aaO,8
    6 aaO,13
    7 A.Schönherr,Von der Existenz des Pfarrers heute,in: Horizont und Mitte,Aufsätze, Vorträge, Reden 1953-1977,München
    1979,94
    8 Schönherr, aaO 96
    9 S.Bobert-Stützel,Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie,Gütersloh 1995 (im Folgenden „Bobert-Stützel“) 73;
    Die Arbeit von S.Bobert-Stützel bot mir mit ihren Ergebnissen die wesentliche Grundlage für meine Darstellung.
    10 D.Bonhoeffer,Vorlesung über Homiletik,I.Predigtamt und Pfarramt am 8.11.1935,in :ders.,Illegale
    Theologenausbildung,Finkenwalde 1935-1937,hg von O.Dudzus und J.Henkys in Zusammenarbeit
    mit S.Bobert-Stützel,D. Schulz und I. Tödt,Gütersloh 1996,Dietrich Bonhoeffer Werke,vierzehnter Band
    (im Folgenden DBW 14),479f
    11 Bobert-Stützel,72f,Anm 252
    12 E. Bethge,Dietrich Bonhoeffer,Theologe,Christ,Zeitgenosse München , 1970,780
    13 Dietrich Bonhoeffer,Widerstand und Ergebung,Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft,hg.v.Chr.Gremmels,E.Bethge und
    R.Bethge in Zusammenarbeit mit I.Tödt,Gütersloh,1998,in:
    Dietrich Bonhoeffer Werke,Achter Band (DBW 8),560 (oder auch WEN,415)
    14 DBW 14,113
    15 DBW 14,149
    16 DBW 14,152
    17 K.Barth in einem Brief an Bonhoeffer vom 14.Oktober 1936, in:DBW 14,252f.Vgl auch die Interpretation der
    Auseinandersetzung zwischen Barth und Bonhoeffer bei K.A.Bauer,(Anm2) 45ff
    18 KD IV/2,13
    19 DBW 14,77
    20 DBW 14,252
    21 DBW 14,588
    22 K.Barth,Einführung 109
    23 K.A.Bauer,Kopf 34
    24 Dietrich Bonhoeffer,Unvollendeter Entwurf einer Kanzelabkündigung nach dem Umsturz, nach E.Bethges
    Vermutung Ende 1942 skizziert,zitiert nach Dietrich Bonhoeffer,Konspiration und Haft 1940 -1945,hg von J.Glenthoj,Ulrich Kabitz
    und Wolf Krötke,in: Dietrich Bonhoeffer Werke Band 16,(DBW 16)Gütersloh 1996,
    588;vgl Bobert-Stützel,90f: „Bonhoeffer kritisiert, dass das Pfarramt als „Ein -Mann- System“ „an die weltlichen Berufe“
    angeglichen worden sei...Eine Umgestaltung des Amtes muß mit einem Umlernen der Amtsträger einhergehen.Hier sieht
    Bonhoeffer seine vorrangige Aufgabe als Direktor des Finkenwalder Predigerseminars.“

    25 DBW 14,175
    26 ebd
    27 DBW 14,237, Hervorhebung vom Vf.
    28 DBW 14,586
    29 DBW 14,589, vgl Melanchthons Tractatus de potestate papae,BSLK 491 mit einem Hinweis auf Augustin und Mt 18,20
    30 DBW 14,591
    31 DBW 14,907
    32 Dietrich Bonhoeffer ,Gemeinnsames Leben, Das Gebetbuch der Bibel,hg.v.G.L.Müller und A.Schönherr,in:Dietrich Bonhoeffer
    Werke , Fünfter Band (DBW 5) München ,1987,85 (auch GL,86)
    33 Manuskript Bonhoeffers:Der Raum der Ämter und Gaben und des christlichen Lebens in der Nachschrift
    Friedrich Trentepohls,DBW 14,453,Anm 147 und 149
    34 vgl DBW 8,433 (WEN 327)
    35 DBW 16,200 ; Es hieß bezeichnender Weise zuvor: „Wenn wir „Hirten“ der Gemeinde sein sollen, wie Christus es war, dann
    ist damit ebend doch wesentlich mehr gesagt als dass wir Prediger sein sollen.“ (AaO 199);
    vgl auch Bobert-Stützel  36
    36 Dietrich Bonhoeffer,Nachfolge,hg.v.M. Kuske u.I. Tödt , München  1989 (DBW 4), 200f (N 181f)
    37 DBW 14,533 Anm 10 in der Nachschrift von E.Bethge
    38 Bobert-Stützel 54 mit Hinweis auf DBW 14,454
    39 Friedrich Trentepohl in seiner Nachschift zu Bonhoeffers Auslegung von 1.Kor 9, zitiert bei Bobert-Stützel 126
    40 Bobert-Stützel,198
    41 DBW 14,315
    42 DBW 14,315 Anm 55
    43 ebd
    44 Bobert-Stützel 199
    45 DBW 14,315 Anm 55
    46 Von Bonhoeffer selbstkritisch dargestellt in einem Brief  an Elisabeth Zinn vom27.1.1936 ,DBW 14,112 f;
    zB:“Ich hatte schon oft gepredigt, ich hatte schon viel von der Kirche gesehen, darüber geredet und geschrieben-und ich war noch
    kein Christ geworden, sondern ganz wild und ungebändigt mein eigener Herr... Daraus hat mich die Bibel befreit und insbesondere
    die Bergpredigt.“(aaO 113)
    47 Dietrich Bonhoeffer, Homiletik (Nachschrift E.Klapproth) zit nach Bobert-Stützel ,66
    48 „Ohne innere Berufung ist man nicht ohne Verheißung, aber man erfährt nur den Fluch, nicht den Segen des Amtes.Die
    Wirkung für die Gemeinde bleibt, auch trotz der Lüge des Pfarrers.Aber an dem Pfarrer selbst vollzieht sich der Fluch des
    Amtes.Es wird ihm zum Gericht.“ DBW 14,481
    49 Bobert-Stützel 66f
    50 DBW 14,237 (Brief an K.Barth vom 19.9.1936)
    51 aaO,237f
    52 DBW 14,237
    53 DBW 14,510
    54 DBW 14,145
    55 E.Bethge in Vorwort zu K.A.Bauer, Kopf,5f
    56 DBW 14,945ff: „Ich versündige mich an meinem Amt, wenn ich nicht selbst täglich betend das Wort suche, das mein Herr mir
    heute sagen will...Nur aus der Ruhe des Wortes Gottes kommt der rechte hingebende Dienst des Tages...bewege dieses Wort
    lange in deinem Herzen, bis es ganz in dich eingeht und Besitz von dir genommen hat.“ (AaO 946f)
    57 Bobert-Stützel 168
    58 DBW 14,873 ;vgl auch DBW 14,946 :“Gebet ist der erste Gottesdienst am Tage“
    59 DBW 4,91 (siehe Anm 46; N 74)
    60 Bobert -Stützel,340
    61 D.Bonhoeffer , Katechetik (theologische Begründung) in DBW 14,533 (bisher unveröffentlicht)
    62 Eberhard Bethge, Randnotiz zur in Anm 78 genannten Nachschrift  von Bonhoeffers Katechetik-Vorlesung
    1935/36 DBW 533,Anm 10.Für KonfirmandInnen und PfarrerInnen gilt „...beide leben von der Taufe und der wiederkehrenden
    Predigt“ Es handelt sich in ihrem Miteinander um eine „Begegnung zweier Menschen, die voreinander keinerlei Autorität haben.“
    (Ebd) „Führer“ wirken durch ihre Person, Pfarrer durch ihren Dienst an der Autorität Christi, deren Gnadenherrschaft
    anzuerkennen  auch für sie eine stete Herausforderung bleibt. “Daher wendet sich Bonhoeffer resolut gegen Personenkult in der
    Kirche, selbst wenn dieser sich an bedeutende geistliche Begabungen heften sollte.Jeder Personenkult unterläuft die Autorität des
    Amtes.“ Bobert-Stützel,32
    63 Bobert-Stützel,331
    64 ders,aaO bei Bobert-Stützel 341,Anm 809
    65 DBW 14,504
    66 ebd
    67 DBW 14,237f
    68 DBW 14,488
    69 DBW 14,486
    70 DBW 14,487
    71 ebd
    72 ebd
    73 DBW 14,488
    74 ebd
    75 Nachwort der Herausgeber von DBW 14,1016
    76 DBW 14,501
    77 DBW 14,500
    78 Aus einer bisher nicht veröffentlichetn Mitschrift von W.D.Zimmermann„Fragen die ihn erreichten“
    DBW 14,508
    79 DBW 14,509
    80 ebd
    81 DBW 4,245 (N 224)
    82 K.Barth , Gottesdienst und Gotteserkenntnis 1938,198f
    83 Karl Barth , Gespräche 1964-1968 hg v E.Busch ,Gesamtausgabe Bd 28,Zürich 1997,360
    84 DBW 14,483
    85 ebd
    86 M.Josuttis in K.A.Bauer, Kopf (Anm 2),141
    87 DBW 8,434 (WEN 327)
    88 J.Calvin, Kommentar zum Johannesevangelium CR LXXV,col 71-73 zit nach E.Lohse,Kleine Evangelische
    Pastoralethik,Göttingen 1985,183
     

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    AMT & DIENST  -  GESCHICHTE

    Materialien zum Problem der Pfarrerdienstanweisung in der Kirche


    Pfarrer sein - was haben wir heute noch davon?
    Beobachtungen zum evangelischen Pfarramt seit Luther

    - Einleitung
    - Alte Kirche und Mittelalter in groben Zügen
    - Reformation
    - Die weitere Entwicklung bis 1580
    - Tendenzen 1580-1980
        - Orthodoxe Versorgungskirche und Gemeinde
        - Die wirtschaftliche Versorgung
        - Die Bedeutung akademischer Bildung
        - Die Akzeptanz des Pfarramtes
        - Blick aufs heute
    - Anmerkungen


    Pfarrer sein � was haben wir heute noch davon?
     
    Beobachtungen zum evangelischen Pfarramt seit Luther

    (von J. Reller) (aus Deutsches Pfarrerblatt 2004)


    Der Präsident des Landeskirchenamtes in Hannover Eckart von Vietinghoff hat das Pfarramt als Schlüsselberuf der Kirche bezeichnet. Aber heißt das, daß damit das Verständnis von Pfarramt schon geklärt ist oder weist es mehr auf eine Aufgabe hin, die u.a. die Theologie für das Miteinander und Gegenüber von Haupt- und Ehrenamt, von Pfarramt, Religionspädagogik, Verwaltung und technischen Diensten noch zu bearbeiten hat? Folgender selektiver Durchgang durch die Geschichte des Pfarramtes versteht sich als Erinnerung an vergessene Teilelemente und Anstoß zu einer höchst notwendigen Klärung.


    1. Alte Kirche und Mittelalter in groben Zügen2

    Ein Pfarrer ist heute der ordinierte Amtsträger der Kirche, der im hauptamtlichen oder neben- oder ehrenamtlichen Sinn zur Ausübung des Predigtamtes auf eine Pfarrstelle berufen ist. Entweder bezeichnet es eher geographisch den Verantwortlichen für einen Arbeitsbereich, den gr. Paroikos/lat. Parochus in seiner gr. paroikia oder lat. Parochia oder � was m.E. wenig wahrscheinlich ist �, die Funktion gegenüber einer Herde Glaubender in deren »Ferch«, lat. Parricius. Das eine wäre ein geopgraphisches Konzept des Pfarramtes, das andere ein auf eine Personalgemeinde bezogenes.

    Zunächst war der episkopos noch in ntl. Zeit der Aufseher der Ortsgemeinde in der Stadt, bis nach Ende der Verfolgung 311 neben die Stadtbischöfe die Presbyter der Landbezirke (gr. paroikiai) traten, und Bischofsamt und Pfarramt differenziert wurden. Der Pfarrer auf dem Land, genauer in der Weite des »Un-landes«, der »Fremde«, eben der paroikia, war hierarchisch dem in der menschenwürdiges Leben beherbergenden Kulturstadt als Zentrum ansässigen Bischof untergordnet.

    Die mit der Parochie verbundene Pfründe begründete die wirtschaftliche Absicherung; Zehnt- und Stolgebühren machen die Einrichtung von Pfarreien für Grundherrn wie Pfarrer zu einer ggf. einträglichen Sache. In Zeiten wie etwa im Hlg. Römischen Reich Deutscher Nation Karls des Großen, wo Christentum öffentlich geboten war, war das Errichten von Pfarrämtern wirtschaftlich lukrativ.


    Im klerikalen Wort »Pfarrherr« klingt noch das mittelhocheutsche Wort »pfarraere« mit.

    Kaum eine Landpfarrstelle außer in den Gebieten mit den besten Bodenwerten erlaubte dem Pfarrer, nur geistlich tätig zu sein. Mit gewissen Anteilen von 1/4 oder 1/2 Stellen war er fast immer auch Landwirt!
    These: Von der Geschichte her sind halbe oder dreiviertel Stellen für den Gemeindepfarrer auf dem Lande nichts Neues. Voraussetzung ist heute nur, daß über überörtliche Beautragungen oder familiär die Gehaltslücke ausgefüllt werden kann, bzw. kirchenleitend akzeptiert wird, daß von einer »geteilten Seele« keine volle Verantwortlichkeit mehr gefordert werden kann.


    2. Die Reformation

    Melanchthon hält in der Confessio Augustana von 1530 vor allem in den Art V.VII.VIII die wittenbergische Auffassung vom Pfarramt fest.3
    CA V »Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakrament geben, dadurch er als durch Mittel den heiligen Geist gibt, welcher den Glauben, wo und wenn er will, in denen, so das Evangelium hören, wirket, welches da lehret, daß wir durch Christi Verdienst, ein gnädigen Gott haben, so wir solchs glauben.«4
    Alle Versuche, ohne dies leibliche Wort des Evangeliums in der Predigt und im Sakrament auszukommen durch eigene Übung und Lektüre, werden abgewiesen.

    Öffentliche Predigt des Evangeliums von der Rechtfertigung allein aus Gnade hat die Verheißung der Erfüllung mit Heiligem Geist, nicht die Sondergruppe besonderer geistlicher Meditationsübung, die Akademiegemeinde, der Knüttekreis, die Vereinigung junger Senioren � es sei denn, sie hätten in besonderer Weise an dieser leiblichen Verkündigung des Wortes Anteil.


    Das Predigtamt ist genannt: Offenbar ist Auftrag und Aufgabe eins, wobei offenbleibt, ob dies Amt in verschiedenen Funktionen wahrgenommen wird. Es heißt nicht: Der Pfarrer/die Pfarrerin ist das Mittel, Glauben zu wirken, sondern das Predigtamt. Man könnte das funktional aufteilen: Ein Diakon, ein Kirchenmusiker hat daran Anteil. Nur gemeinsam an eben diesem Auftrag und in diesem Amt tätig zu sein, das muß bewußt bleiben bei jeder Funktionalisierung. Kirchenmusik oder Freizeitpädagogik dürfen auch in der Eventkultur einer Spaßgesellschaft die Verkündigung und die Sakramente nicht ausblenden.


    Es geht also nicht darum, was der Diakon und was der Pastor dürfen und was nicht, sondern darum, daß sie alles in dem einen Predigtamte tun, für das die ordinierte Pastorin die Verantwortung trägt als Hirte, nicht als administrativer oder persönlicher Machtmensch.

    Das Predigtamt in einem Gottesdienst in Ort und Zeit und konkretem Raum versammelt Menschen durch seine Funktionen, nicht durch die Person des Herrn Superintendenten, wobei das Gutsein, Tüchtigsein und Beliebtsein nicht schaden muß. Aber es müßte durchsichtig werden für Gottes Wirken durch Evangelium und Sakramente, für die Herrschaft Christi.

    Orte und Medien sind offenbar frei, solange das Evangelium verkündet und Taufe und Abendmahl gefeiert werden. Dorfkirche oder zentrale Stadtkirche, Schützenzelt oder Pfadfinderlager, Rundfunk, Internet oder Fernsehen, wobei letztere wie auch alle gute Öffentlichkeitsarbeit in Zeitungen die Leiblichkeit des Sakramentenempfangs elektronisch oder in Druckerschwärze kaum umsetzen können. Es geht um konkrete Versammlung von Menschen um Evangelium und Sakramente, wobei Stammeszugehörigkeit nach Adorf oder Kirchturmperspektive menschliche Bedingtheiten, aber nicht Kriterien von Kirche, eben non-theological-factors sind.


    Der Zentralgottesdienst einer Region vollzieht genauso das, was das Predigtamt will, wie vielleicht der Gottesdienst in der Dorfkirche. Da ist qualitativ kein Unterschied. Reformatorisch müßte man m.E. allerdings immer fragen: Was erreicht mehr Menschen so, daß Glauben leiblich geweckt werden kann, der sonn- oder festtägliche Gottesdienst auf dem Dorf oder der zentrale »event«? Das Ziel leiblicher Anteilhabe am Evangelium in Wort und Sakrament gibt große Freiheit, aber auch eine klare Intention.


    In unserem Bemühen, regionale Strukturen von Versorgungsregionen mit 13/4 Pfarrstellen und 3/4 Diakon und 12 Stunden Sekretärin zu organisieren, müßte m.E. eines immer im Blick bleiben, daß diese Ordnungen dem Auftrag des Pfarramtes nicht entgegenstehen, sondern dienen. Die Organisation von Pfarramt mit Sprechstunde, Anrufbeantworter und Dienstwochen muß Hilfe zur leiblich-seelischen Gesundheit von Amtsinhabern sein, aber eben auch dem Leiblichwerden des Evangeliums unter den Menschen dienen. Abstrakt ermittelte und gerecht und gleich auf Gemeinden und zentrale Leitung und Dienste angewandte Einsparungsquoten müssen inhaltlich überprüft werden: Bereiche, die dem Leiblichwerden des Evangeliums in Wort und Sakrament näher sind, dürfen zuallerletzt von Sparmaßnahmen betroffen werden.


    VII »Reine Predigt des Evangeliums und evangelische Darreichung der Sakramente ist genug �. Und ist nicht not zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche, daß allenthalben gleichformige Ceremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden �.«


    Die Formen können immer neu gefunden werden im Stil der Agende I von Mahrenholz und Beckmann, im Taizestil, im Gospelstil, orthodoxe Gefühlsschauer erzeugend oder reformiert nüchtern.


    VIII »Item, wiewohl die christliche Kirche eigentlich nicht anders ist dann die Versammlung aller Glaubigen und Heiligen, jedoch dieweil in diesem Leben viel falscher Christen und Heuchler, auch offentlicher Sünder unter den Frommen bleiben, so sind die Sakrament gleichwohl kräftig, obschon die Priester, dadurch sie gereicht werden, nicht fromm sind, �«


    Das jüngste Gericht kommt am jüngsten Tag � nicht vorher: Alle Kategorien wie Kerngemeinde oder Rand, Aktiv-Mitarbeitende und Passiv-Bleibende, Heiligabendchristen und andere sind Hilfsbegriffe: Gottesdienstliche Versammlung, die das Predigtamt immer wieder neu ermöglichen muß, gerne jeden Sonntag, aber warum nicht auch Sonnabend abends, ist nicht qualifiziert durch die Person von Gemeindemitgliedern oder Funktionsträgern, sondern durch Evangelium und Sakramente.

    These: Melanchthon versteht genial5 das Predigtamt einzig und allein von seiner Funktion und seiner Intention her, Mittel glaubensweckender Verkündigung und Sakramentenspendung für möglichst viele und möglichst nahe, leiblich, an möglichst vielen Menschen zu sein � nicht von seiner Ordnung, seinen Orten, seinen Formen und Riten, den Personen her. Das Predigtamt kann funktional aufgeteilt sein, solange die Verantwortung klar ist.6


    3. Die weitere Entwicklung bis 1580

    Die ersten ev. Pfarrer werden 1535 ordiniert. In Wittenberg ist 1539 das erste lutherische Konsistorium als kirchliche Prüfungsbehörde für Pfarrer im Entstehen.
    An die Stelle der von ihrer kultischen Funktion her beschriebenen Messpriester ist der Pfarrer getreten, der verstehen soll, was er lehrt und predigt, also akademisch gebildet ist, der nicht mehr seine exklusive Hervorgehobenheit und Macht durch einen unzerstörbaren Charakter seiner sakramentalen Fähigkeiten betont, sondern nach dem Priestertum aller Gläubigen aus der Taufe gekrochen ist und sich durch seinen besonderen Auftrag ausweist.

    Ein interessantes Bild zeichnet Luther in der Schrift »Von Konzilien und Kirchen« 1539:7

    Zur Kirche dem weltlichen Regimente nach, die Pfaffengezänk von Fall zu Fall neu durch Kompromisse ordnet und nicht wie nach altgläubiger spätmittelalterlicher Lehre neue Glaubensartikel und verpflichtende Ordnungen stellt, meint Luther, daß der Wirkungsbereich von Pfarrern im Verein mit Lehrern im Grunde heiße, lokale Dorfkonzilien abzuhalten:

    »Darum sind Pfarrher und Schulmeister die niedrigen, aber tägliche, bleibende, ewige Richter, die ohn Unterlaß anathematisieren, das ist dem Teufel und seinem Toben weren. � Ein Pfarrher und Schulmeister haben mit kleinen jungen Schälken zu tun und zeugen immer neue Leute zu Bischofen und zu Concilien, wo es not ist. � Aber ein Pfarrher und Schulmeister pflanzen und zeugen eitel junge Bäumlein und Wurzelsträuchlein in den Garten. O sie haben ein köstlich Amt und Werk Und sind die edelsten Kleinod der Kirchen. Sie erhalten die Kirchen. Darum sollten alle Herrn dazu thun, das man Pfarrher und Schulen erhielte. Denn wo wir die Concilia ja nicht haben können, so sind die Pfarrhen und Schule wiewohl kleine, doch ewige und nützliche Concilia.«


    Die Parochie mit ihren Schulen als Ort, wo man wie in einem Garten immer neue junge Menschen vom Schalksein zu rechten Christen und ehren- und hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeitern heranbildet � L. scheint diese Alltagsleben ordnende, Glauben unter die Menschen bringende, zusprechende und mahnende Bildungsaufgabe noch wichtiger als ein landesweites Zusammensein kirchlicher Würdenträger. Pfarrer und Lehrer, Pfarrer und Religionspädagoge haben teil an diesem Minikonzil vor Ort, ja sind, sofern sie Teil haben an dieser Bildungsaufgabe, der Schatz der Kirche.


    »O Herr Gott wie ummeßlich groß gut könnnten sie (scil. die politischen Herren) tun bei der Kirchen und Gott würde ihnen ihren Reichtum oder Gewalt wohl gönnen und lassen � so sie sonst ihr schändlich Leben auch besserten. Aber solch unser Seufzen und Klagen ist umsonst � da ist kein Hören noch Sehen. Lassen die Pfarrhen verwuesten und das Volk ohn Gottes Wort rohe und wilde werden. Ich habs gehört von Leuten, denen ich glauben muß, das in vielen Bistumen bei .200.300.400. gute Pfarrhen ledig stehen. Ist das nicht ein schrecklich grausam Ding zu hören unter den Christen? Erbarms Gott im Himmel und erhöre unser elend Seufzen und Klagen! Amen.«


    Eine gut ausgestattete Pfarrstelle als evangelischer Volksbildungsstützpunkt mithilfe des Katechismus mit Kultivierungsauftrag für die Hebamme Pfarrer inmitten einer unkultivierten Wüste, � das ist Luthers Vision und sein Gebet.


    Weltliche Herrschaft, Pfarrer und Eltern sollen öffentliche böse Werk verdammen und die guten handhaben, kirchliche Sitte, geistliche Ordnungen und Formen im lokalen Kontext bilden � zur äußerlichen Ordnung und Zucht, nicht zur Seligkeit.


    Daß Luthers Wunsch nach Schulen bis auf städtische Gymnasien zunächst fast überall frommer Wunsch blieb, steht auf einem anderen Blatt. Vernachlässigung evangelischer Bildung war auch zu anderen Zeiten gang und gebe. Erst Ernst der Fromme von Sachsen-Gotha führte 1642 im 30-jährigen Krieg fünfjährige Volksschulen ein:8 Vorher war die Katechismuslehre beim Küster oft die einzige Bildung.


    Bis nach 1871 war die geistliche Schulaufsicht in Hannover ungebrochen. Erst 1918 hörte sie ganz und gar auf. Aber in meiner ehemaligen Gemeinde erzählten die Älteren noch 1995 aus den 30er Jahren, daß bei Beerdigungen auf dem Dorf die Schulkinder singend vorangingen. Lokalkonzilien von Pfarrer und Schulmeister war es gelungen, geistliche Sitte zu bilden.

    These: Luthers Wunschtraum � der mutige Pfarrer inmitten geistlicher und kultureller Rohheit mit gut ausgestatteter Pfarrstelle (ob Gemeinde oder Region � Hauptsache ohne Pfaffengezänk über Ordnungsfragen und viel Papier), um inmitten der Wüste das Evangelium unter die Leute zu bringen, aus Schälken gute Christen mit guten Werken biblischer Art zu machen, eine geistliche Form zu prägen. Zum Predigtamt mit Bildungsziel gehören Pfarrer und Lehrer, Pastor und Religionspädagoge immer gemeinsam.


    4. Tendenzen 1580�1980

    a) Orthodoxe Versorgungskirche und Gemeinde
    Karl Heussi schließt in seinem unnachahmlichen Kompendium der Kirchengeschichte seine Darstellung der Konsolidierung evangelischer Kirchlichkeit mit dem Konkordienwerk 1580 ab:9
    »Mit der Entstehung des Konkordienwerkes von 1580 war der Prozeß der Entstehung lutherischer �Kirchen� abgeschlossen. Es gab nun eine Reihe territorial abgegrenzter, �äußerlich sichtbarer�, �einer theologischen Schule ähnlicher� Gemeinschaften, die über dem Fundament der �reinen Lehre� errichtet waren: die Professoren- und Pastorenkirche war vollendet.«

    Etwas zunächst viel offener Gedachtes, das Priestertum aller Gläubigen in einem christlichen Gemeinwesen, ein funktional gegliedertes Predigtamt war offenbar aufs neue enggeführt: Der Pastor als Wächter über die reine Lehre mit akademischer Bildung herrschte einsam über die Gemeinden mit der obrigkeitlichen Polizeigewalt im Hintergrund, synodale Elemente und Laienbeteiligung gerieten anders als in der reformierten Tradition ins Hintertreffen, die Professoren- oder Pastorenkirche war vollendet.


    Das landesherrliche Kirchenregiment brachte nicht nur geistlichen Segen mit sich. Es waren nicht alle Fürsten gesinnt, in die Wüste des großen Haufens genügend Verkündiger des Evangeliums zu stellen, etwas was sich bitter rächen sollte, als es mit der Industrialisierung nach 1750 zu großen sozialen Umwälzungen kam. Riesige Stadtgemeinden mit 20000 Mitgliedern um winzige alte Dorfkirchen entstanden, bis um 1900 Pfarrer und Kirche durch Neubauten wieder näher zu den Menschen kamen.10
    Erst die innere Mission Wicherns, die aus der Erweckungsbewegung erwuchs, hatte über Stadtteilarbeiter und Laien versucht, seelsorgerlich-diakonisch unter den Ärmsten der Armen in den Slums der Großstädte zu wirken.11

    D.h. über Jahrhunderte war der Pfarrer als Amtsperson der sakramentale Versorger in der Ferne, bis das Pfarramt mit dem Gemeindegedanken verbunden wurde. Luthers Idee aus der Schrift über die Deutsche Messe 1526, das man für die wahrhaft Frommen eine Versammlung finden müßte, Bucers Konventikelgedanke wurden über die »ecclesiola in ecclesia« Speners kirchenordnend erst spät in der Erweckungsbewegung des 19. Jh. rezipiert. Heute steht die Beziehung von Predigtamt und konkreter Gemeinde wieder auf dem Prüfstand.


    Eine Anekdote, die dies erläutert:12

    »Der Dichter Johann Gottfried Herder war 1776 auf Goethes Betreiben Generalsuperintendent in Weimar geworden. Das hinderte ihn nicht, die Herzogin Anna Amalia 1788 auf eine längere Reise nach Italien zu begleiten. Ein italienischer Abt äußerte sein Erstaunen, daß Herder seine Herde auf so lange Zeit auf der Weide allein gelassen habe. Herder erwiderte gelassen: �O, das ist nicht so arg. Bei uns in Deutschland ist schon längst die Stallfütterung eingeführt.�«
    Wer kommen will, komme am Sonntag in die zentrale alte Kirche, wo der beamtete Pfarrer abseits von der Gemeinde amtiert. Ob orthodox oder aufgeklärt liberal begründete versorgungkirchliche Konzepte hielten sich!
    These: Orthodoxe, liberale oder pluralistisch und theologisch indifferente Versorgungskirche und Gemeinde dürfen nicht wieder auseinanderfallen.


    b) Die wirtschaftliche Versorgung
    Die ersten Visitationen in Kursachsen 1526 erwiesen bereits, daß die Versorgung der Pfarren zusammengebrochen war.13 Die Bauern waren in der neuen ev. Freiheit zur Abgabe des Zehnten nicht mehr bereit. »und ist solcher Undank unter den Leuten für das heilige Wort Gotts, daß ohne Zweifel eine große Plage vorhanden ist von Gott; und ich s mit gutem Gewissen zu tun wüßte, möchte ich wohl dazu helfen, daß sie keinen Pfarrherrn oder Prediger hätten und lebten wie die Säue, wie sie es doch tun: da ist keine Furcht Gottes noch Zucht mehr. Weil es den Bann des Papstes bei uns nicht gibt, tut jedermann, was er nur will.« Luther appellierte an die Fürsten, um den Lebensunterhalt der Pfarrer sicherzustellen, die nicht über dem Pflug ihre eigentliche Aufgabe vergessen dürften. Der Kurfürst sollte doch Einnahmen aus Klöstern, Stiftungen, Lehen und Spenden bereitstellen für die Pfarrbesoldung. Evangelische Volkskirche braucht offenbar politische Gewalt, um zu bestehen, genauso wie man das Volk zwingt, »daß sie Brücken, Stege und Wege bauen.«

    Die Lage verschärft sich, als 1528/1529 herauskommt, daß der Adel im Kurkreis das Stiftungsvermögen zu eigenen Gunsten eingezogen hat und den Pfarrern nichts bleibt als Opfer und Messpfennig.

    Ab 1532 setzt der Kurfürst Johann weltliche Beamte zur Sequestration (Absonderung) ein, die aus den Einkünften der Klostergüter nach Abzug von Pensionen für die verbliebenen Mönche Pfarrer entlohnte.

    Z.B. erbrachten die thüringischen Klöster 1538: 11311 Gulden Einnahme, wovon 4194 Gulden für die Pfarrbesoldung, 6063 für Mönchspensionen und 773 für die Pension von 3 Äbten weitergegeben wurden.
    1544 hatte Johann Friedrich noch einmal die Zehnteinnahmen und Pfarrländereien unter schwierigen Verhältnissen untersuchen lassen und so versucht, lebensfähige Pfarrstellen zu errichten und den ärmeren Zulagen geben zu können. »Die Mittel dafür wurden zum Teil dadurch aufgebracht, daß kleine Gemeinden keinen Pfarrer mehr bekamen und zu einer größeren Gemeinde geschlagen wurden � .«

    Es waren also wohlgemerkt administrativ staatliche Maßnahmen evangelisch kirchlich wohlgesinnter Fürsten, die Umverteilungsmaßnahmen organisierten, die in der Fläche wenigstens halbwegs ordentliche Versorgung der Pfarrer sicherstellten � aus kirchlichen Stiftungsmitteln, nämlich Klosterstiftungen, nicht aus weltlichen Steuermitteln! Erst der Absolutismus und der Reichsdeputationshauptschluß 1803 vermischten beide Töpfe in einer Weise, daß der Kirchenunterhalt aus staatlichen Mitteln oder Ausgleichszahlungen gang und gäbe wurden. Rationale Verwaltung und Recht als Errungenschaft des modernen Zentralstaates waren das Mittel, um Abhilfe zu schaffen.


    »Johann Valentin Andreae (1586�1654) schildert das Schicksal des evangelischen Pfarrers seiner Zeit, der

    Was niemand will, nehmen muß
    Er nimmt so wenig, als niemand glaubt;
    Denn der tut wohl, der Pfründen beraubt.
    Er nimmt das Schlechteste vom Pfleger sein,
    Die schwächste Frucht, den sauersten Wein.
    Er nimmt mit Müh, was sauer verdient �
    Noch hält man für Geschenk die Pfründ.
    Er nimmt mit Schmerz von seinen Bauren,
    Die ihn bezahlen als die Lauren. (Toren)
    Also muß er im Bettel reisen
    Und endlich lassen arme Waisen.
    Damit zeucht er den schweren Karren
    Und wird gehalten für einen Narren.«14

    Es gab fette Pfründen und magere, die zum Sterben zuviel und zum Leben zuwenig erbrachten. Bis um 1900 gab es kaum die Möglichkeit in den Ruhestand zu gehen, allenfalls Erleichterung durch einen Adjunkt zu bekommen, den man allerdings aus den Einkünften entlohnen mußte. Erst um 1900 war das Entgelt über Naturalabgaben weitgehend abgelöst.

    1918 hörte das landesherrliche Kirchenregiment auf, als die Fürsten in Deutschland zugunsten einer volkssouveränen Demokratie abdankten. Die Einheit von Thron und Altar, von pfarrherrlicher Bindung an den Summepiscopus kam an ein Ende � mit all den Verwicklungen, die das für viele Pfarrer bis nach der zweiten großen deutschen Katastrophe des 20. Jh. brachte, bis nach dem zweiten Weltkrieg 1945. Fürsorge und Schutz des christlichen Fürsten für die Kirche und ihre Pfarrer in oft persönlicher Bindung wechselte mit einer Situation, in der sich Kirche und Pfarrer ungeschützt oder sogar angefeindet als Verein wie andere auch auf einem heftig umkämpften Marktplatz vorfanden.15

    Ein Beispiel:16 Die sozialdemokratische Regierung in Braunschweig verweigerte in noch gut marxistischer Tradition die seit dem Reichsdeputationshauptschluß 1803 vereinbarten Staatsleistungen an die Kirche, die der Kirche angesichts der vom Staat einverleibten geistlichen Stiftungen zustanden, wenn man rechtlich dachte. Pfarrer hatten nicht nur wie alle die Krisen von Inflation und Wirtschaftsniedergang durchzustehen, sondern bekamen nur um 30% und mehr geminderte Gehälter und lebten kurz oberhalb der Armutsgrenze mit großem Pfarrgarten, Hühner- und Schweinestall. Erst mehrere Prozesse auf Reichsebene brachten die rote Regierung in Braunschweig zum Einlenken, eine Reihe Pfarrer vom baltendeutschen Landesbischof Bernewitz an allerdings waren längst zu braunen Sympathisanten autokratischer Staatsform geworden.

    These: Wer das Pfarramt in der Volkskirche will, kann auf die Unterstützung der Legislative nicht verzichten. Die Kirche muß auf die Politik einwirken, um bei Reduktion der Kirchensteuer neue Finanzierungswege zu öffnen. Von der Geschichte der Staatswerdung her ist jede deutsche Regierung zur Unterstützung der Kirchen verpflichtet � nicht nur in den einmal ausgehandelten Staatsleistungen. Die Pfarrerversorgung hat Jahrhunderte der Armut und Unsicherheit gekannt, die angesichts der Kirchensteuer im Wirtschaftswunderland unvorstellbar scheinen: Verordnete Armut kann dem Pfarramt genausowenig dienlich sein wie grundsätzliche Besitzstandswahrung. Erster Prüfstein ist die Solidarität aller kirchlichen Berufsgruppen.

    c) Die Bedeutung akademischer Bildung.
    Akademische Bildung und Lehre gaben, existentiell verankert, Pfarrern die Kraft zur Selbstvergewisserung aus dem Glauben, in Zeiten der Verfolgung durchzuhalten. Im 30-jährigen Krieg waren 1629 die lutherischen Pfarrer in der niedersächsischen Kleinstadt Peine z.B. nicht bereit, sich der Gegenreformation anzuschließen. Und immerhin waren � kaum glaublich � 1/3 der Peiner Bevölkerung, die heute nur noch zu etwa 50% zur ev.-luth. Kirche gehört, bereit, dem Glaubenswechsel und Verzicht auf die Confessio Augustana die Auswanderung vorzuziehen.
    Ein Pfarrer wie Paul Gerhardt ließ sich nicht hindern, für wahr erkannte Lehre auch kontrovers von der Kanzel zu predigen � gegen den Wunsch des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm in Brandenburg. Seine tief innerlichen und rational betrachtenden Lieder gehören zu den Hits der Gesangbücher bis heute.

    Im Kirchenkampf 1934 erfolgt Vergewisserung der Kirche, die Kirche bleiben wollte, gegenüber einem sich selbst vergötzenden Staat, in der Theologischen Erklärung von Barmen, die ganz bewußt den Anschluß an die Bekenntnistradtion orthodoxer gelehrter Kirchlichkeit sucht. Man sollte aus dem Bekenntnis wachsende Theologie in Krisenzeiten nicht unterschätzen.
    Vor allem das 19. Jh. erkannte, daß neben die theologische akademische Bildung auch die Reflexion der Praxis des Gemeindedienstes treten mußte.
    Das 19. Jh. bringt die Gründung von Predigerseminaren. Abt Salfeld begründet beispielsweise das Predigerseminar im Kloster Loccum neu, um die pädagogischen Fähigkeiten der Pfarrer neu zu stärken. Wilhelm Löhe und Gerhard Uhlhorn betonen je für sich, daß nicht universitäre Theologen als Vikare zu kindischen und alten Pfarrern kommen oder die Witwe heiraten sollen, um ins Amt zu kommen, sondern daß sie praktisch vorgebildet sich den Herausforderungen in den Gemeinden stellen sollen.


    Evangelische Pfarrer stellten über Jahrhunderte auf das Ganze des Landes bezogen etwa die Hälfte der akademisch Gebildten. 1800 waren 50% aller Akademiker Theologen, 1900 immerhin noch 10%, 1992 gerade noch 0,5%: Akademische Bildung hat sich unendlich ausdifferenziert und weite Kreise gezogen. Der Pfarrer ist heute nicht mehr der eine von drei Gelehrten in der ländlichen Kleinstadt neben Arzt und Apotheker wie in den Romanen von Theodor Fontane. Aber immer noch ist die akademisch theologische Bildung vor Ort eine wichtige Schule des Denkens in Zusammenhängen gegenüber einer Vielfalt zunächst für sich bestehender Einzelwissenschaften, die populär selektiv rezipiert werden.

    These: Helmuth Thielecke17 drückt aus, was viele von der Gemeindepraxis her fragen: Ist akademisch theologische Bildung nötig, die vom Verkündigungsauftrag und Leben der Gemeinde oft so weit weg ist? Sie ist unverzichtbar, wenn sie dem Glauben der Gemeinde dient und existentiell vergewissert:
    »Die Theologie kann ein Eispanzer sein, der uns erdrückt und unter dem wir erfrieren. Und sie kann auch � das ist sogar ihr Ziel! - das Gewissen der Gemeinde Christi, ihr Kompaß und in dem allen ein Loblied der Gedanken sein.«

    d) Die Akzeptanz des Pfarramtes
    Die Resonanz auf das Predigtamt war durch die Zeiten nie gleich:18
    »Der Reformator Württembergs, Johannes Brenz (1499 bis 1570), hatte in einer nahezu leeren Kirche gepredigt. Ein Amtsbruder wunderte sich darüber und meinte: »Um so weniger Menschen willen würde ich die Kanzel kaum bestiegen haben.«
    Brenz wies als Antwort auf einen Brunnen hin und sagte: »Wisset ihr wohl, welches die größte Tugend dieses Brunnens ist? � Es ist sein Los, daß er immer gleich reichlich Wasser gibt, es mögen nun viele oder wenige aus ihm schöpfen. Er ist das Vorbild der Prediger göttlichen Wortes. Auch diese müssen unaufhörlich das Wasser des Lebens entquellen lassen, unbekümmert, ob sich viele oder wenige Durstige um sie her versammeln.«

    Leere, viertel- oder halbgefüllte Kirchen hat es immer schon gegeben.

    Johannes Wallmann18 konkludiert: »Der deutsche Protestantismus bietet an der Wende zum 19. Jahrhundert ein trostloses Bild. Henrik Steffens, im Jahr 1799 ins Zentrum der deutschen Aufklärung nach Berlin kommend, muß feststellen: � Die Kirchen waren leer, und verdienten es zu sein; die Theater waren gedrängt voll, und mit Recht.�«
    Ein preußisches Hofrescript von 1802 konstatiert den vollständigen Verfall der Religiosität; von den gottesdienstlichen Handlungen seien die Konfirmation und die Taufe die einzigen, die noch in allgemeiner Geltung ständen. Der größte protestantische Kanzelredner der Zeit, Christoph Friedrich von Ammon, klagt an der Schwelle des neuen Jahrhunderts von der Kanzel herab: �Nicht genug, daß die Tempel verlassen stehen; nicht genug, daß die gottesdienstlichen Gebräuche und Handlungen mehr als jemals an der allgemeinen Teilnahme verloren haben; nicht genug endlich, daß der kirchliche Gemeingeist der Christen beinahe ganz entschwunden ist: auch der Glaube an die wesentlichsten Wahrheiten der Religion hat für unendlich viele seine Gewißheit und Stärke verloren. Zweifelsucht und Gleichgültigkeit sind häufig an seine Stelle getreten, der Gedanke an Gott und eine künftige Welt ist ganzen Familien und Gesellschaften fremd geworden.�«


    Kasualien waren lange Phasen kaum eine Herausforderung: Nach 1750 waren fast überall stille Beerdigungen oder Reihenbeerdigungen üblich. Erst die Erweckungsbewegung nach 1830 achtete darauf, daß jeder Mensch als zu rettende Einzelseele individuell kasual begleitet wurde. Erst von der Erweckung und diakonischer innerer Mission ergriffene Pfarrer waren es, die den Trend von leeren Kirchen wieder zu gefüllten wendeten. Man kann das nicht zuletzt an vielen Kirchenerweiterungen und Neubauten zwischen 1850 und 1900 feststellen, wobei für die Bedeutung dieses Wandels auch die Zeitgeschichte nicht vergessen werden darf: Es war die politisch-nationale Krise eines napoleonisch dominierten Deutschlands und der Freiheitskriege, das der Erweckung vorauflag mit all den Erschütterungen menschlicher Gewißheiten, die diese mit sich brachten und die in der Erweckung Antwort fanden.20


    Im Falle der Wertschätzung der Beerdigung gelang der Wandel offenbar bis heute im Westen Deutschlands nachhaltig � eine Beerdigung mit kirchlicher Begleitung rangiert weit vor der durch einen weltlichen Redner. Und auch der weltliche Redner geriert sich allzu oft als Pfarrer durch Gesangbuch und Rezitation des Vaterunsers. Daß die Hochschätzung religiöser Lebensdeutung angesichts des Todes nicht selbstverständlicher kirchlicher Besitz ist und bleibt, liegt angesichts der in weiten Teilen Ostdeutschlands völlig anderen Situation auf der Hand. Religiöse Sinndeutung angesichts von Lebensschwellen kann im Lauf von drei Generationen bei entsprechendem Klimaumschwung jegliche Plausibilität auch wieder verlieren.

    Ein Predigtrat aus der Erweckungsbewegung von Ludwig Harms, dem Erwecker der Lüneburger Heide und Begründer der Hermannsburger Missionsanstalt 1849:21
    «Nach meiner Überzeugung können die Relgionsvorträge nur dann Frucht schaffen, wenn sie vom Gebiete des Allgemeinen und Abstrakten sich fernhalten, dagegen möglichst konkret werden, wie uns die Bibel selbst das Vorbild davon giebt.«
    «Und nennen Sie Alles beim rechten Namen, daß man es mit Händen greifen kann, was Sie meinen, so concret wie möglich, damit es nicht über den Köpfen hingeht« � »aber alles so einfach, so platt wie möglich.«
    »Predigen Sie rücksichtslos entschieden, Gottes Wort nimmt keine Rücksichten, strafen Sie die Sünden und Gottlosigkeiten der Gutsbesitzer und Pächter, sie mögen da sein oder nicht, und die Sünden und Gottlosigkeit der Tagelöhner auch, sie mögen da sein oder nicht, und beide mögen es übel nehmen oder nicht, und annehmen oder nicht, nie kommt das Wort Gottes leer zurück«.
    Dieser Predigtrat mag immerhin zeigen, daß die Erwechungsbewegung offenbar auf dem Land die Sprache der Menschen sprach, was unter den verelendeten Arbeiterschichten der Stadt nur schlecht gelang. Aber Predigt ohne Klarheit und Einfachheit hat keine Verheißung.
    These: Zeiten kirchlicher Geltung wechseln unter den Bedingungen der Volkskirche mit solchen der relativen Bedeutungslosigkeit. Kirchliche Erneuerung kommt immer aus prophetischer Predigt in Gesetz und Evangelium und individueller Seelsorge � in den Zeiten, wo die Herzen dafür offen sind und die Sprache der Menschen getroffen wird.

    e) Blick aufs heute
    59 Jahre evangelischer Kirchengeschichte in der Bundesrepublik Deutschland sind vergangen: eine Phase gut ausgestatteter pfarramtlicher Arbeit, die durch das Grundgesetz mit den Weimarer Kirchenartikeln und die Kirchensteuer in Westdeutschland möglich wurde. 1990 zählte man in den Gliedkirchen der EKD ca. 16.000 Pfarrer Welche Parochialversorgung war da möglich, aber auch welch funktionale Ausdifferenzierung des Pfarramtes in allen möglichen landeskirchlichen Beauftragungen. Karl Wilhelm Dahm feiert, daß es 1975 25% Funktionspfarrstellen gab, man allerdings 1982 schon wieder bei 18% und damit unter dem Stand von 1960 war: Wo man heute ist, sei dahingestellt.

    Der Kirchenrechtler Konrad Hesse22 kommentierte das 1965 mahnend so: »Die umfassende Sicherung, Mitwirkung und Einflußnahme der Kirchen, die die heutige Lage des Verhältnisses von Staat und Kirche kennzeichnen, stehen in einem Mißverhältnis zur geistlichen Situation und Ausstrahlungskraft der Kirchen.«

    Eine Pfarrerzahl so groß wie nie und geographisch betrachtet durch eine Kirchbauwelle so nah wie nie an den Menschen hat doch offenbar einerseits nicht selbstevident gewirkt und die Menschen überzeugen können, daß christlicher Glaube an das Evangelium soviel wert ist, daß man sich dieser Beitragspflicht nicht durch Austritt entzöge.


    Andererseits muß man festhalten, daß die neueren Umfragen immer noch hohe Zustimmung zum Pfarrer als Vertreter von Glauben und Kirche, zum Glauben an den Wert eines Menschen unabhängig von seiner Leistung, zum Glauben an Gott und zum Gebet, zu Taufe und Konfirmation aufweisen � allerdings offenbar nicht so, daß mancher seinen monetären Beitrag zur Institution Kirche und damit zur pfarramtlichen Arbeit gerne leisten wollte.



    Anmerkungen

    1 Aber auch das wäre seit 500 Jahren nichts Neues!
    2 Der vorliegende Vortrag entstand für eine Klausurtagung des ev.luth. Kirchenkreises Norden im Juni 2004 in der Heimvolkshochschule Hermannsburg.
    3 Vgl. die Bemerkungen von Jörg Winter und Karl Wilhelm Dahm: Art. Pfarrer, Pfarramt, in EKL (3.Aufl.), Sp. 1147/1159.
    4 Daß ein Pfarrer ordentlich berufen sein muß (CA XIV), und auch das Bischofsamt als leitendes Pfarramt verstanden wird, das durch das Wort Kirche leitet (CA XXVIII), nicht durch politische, administrativ-konsistoriale oder andere Macht und Gewalt, setze ich in diesem Zusammenhang einfach voraus. Die Frage administrativer Kirchenleitung ist m.E. theologisch noch kaum aufgearbeitet. Ein von einem leitenden Juristen in der Kirchenverwaltung überlieferter Kalauer:
    »Der Theologen Zwist löst in kurzer Frist der Jurist mit List!« verrät nicht unbedingt ein Gespür dafür, daß Kirche theologisch betrachtet mehr sein müßte als ordentlich gestaltete, rationalisierte Verwaltungsorganisation. Rechtliche Gestaltung der Kirche ist nicht beliebig. Das dürfte die Geschichte des Kirchenkampfes 1934 gezeigt haben. Deutschchristliche Eingliederung in eine Reichskirche bei angeblicher Bekenntnis- und Gottesdienstfreiheit täuschte nicht über die durch die Organisation veränderte Inhalte von Kirche und christlichem Ethos hinweg. Die im Bekenntnis wurzelnde Theologie muß die Gestalt der Kirche bestimmen.
    Vgl. Kurt Meier: Der evangelische Kirchenkampf. Der Kampf um die �Reichskirche�, Halle 1984, S. 242ff.
    4 Übertragung vom Vf. nach BSLK.
    5 Viele rezipierte Lehrbekenntnisse der Kirche sind in Krisensituationen entstanden: die Confessio Augustana von 1530, die Barmer Theologische Erklärung. Krisen bergen oft die Chance zur geistlichen Klärung.
    6 Zwei wichtige Tendenzen des 20. Jh.: Das Wachsen politischer Verantwortung als Teil des Pfarrerseins anstelle alter nationaler Fürstenloyalität, die Frauenordination, durch die das Pfarramt etwas von seiner monolithisch-männlichen Gestalt verloren hat.
    7 Martin Luther: Studienausgabe, Bd. 5. S. 577, 10ff; 578, 2ff. (übertragen vom Vf.).
    8 Martin Schmidt: Pietismus, Stuttgart�Berlin� Köln�Mainz 1983 (3. Aufl.), S. 29.
    9 2. Aufl., Tübingen 1910, S. 401 (ab der 9. Aufl. 1936 gestrichen).
    10 Martin H. Jung: Der Protestantismus in Deutschland von 1870 bis 1945 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen III/5), Leipzig 2002, S. 67ff.
    11 Johannes Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, Tübingen 2000 (5. erw. Aufl.), S. 230f.
    12 Hans von Campenhausen, Theologenspieß und -spaß. Kaum 400 christliche und unchristliche Scherze, Hamburg 1973, S. 72.66.
    13 Johann-Friedrich Enke: Das Evangelische Pfarrhausarchiv. Ein Führer durch die ständige Ausstellung im Eisenacher Lutherhaus, Jena 1990, S. 14ff.
    14 Campenhausen, aaO, S. 67.
    15 Vgl. zum plebiszitären Kampf um den Religionsunterricht in der Schule: Hans-Walter Krumwiede: Kirchengeschichte Niedersachsens, Göttingen 1995/1996, S. 432.442.
    16 Dietrich Kuessner: Landesbischof D. Alexander Bernewitz 1863�1935. Vom Baltikum nach Brauschweig. Eine Studie (Arbeiten zur Geschichte der Braunschweigischen ev.-luth. Landeskirche im 19. und 20. Jahrhundert 4), Büddenstedt 1985, S. 56ff.
    17 Auf dem Weg zur Kanzel. Sendschreiben an Theologen und ihre älteren Freunde, Stuttgart 1983, S. 34f.
    18 von Campenhausen, aaO, S. 64.
    19 aaO, S. 175f.
    20 Vgl. z.B. Ludwig Harms: In treuer Liebe und Fürbitte. Gesammelte Briefe, hg.v. Hartwig F. Harms/ Jobst Reller, 2 Bde., Berlin (LIT) 2004 (im Druck).
    Georg Rietschel: Lehrbuch der Liturgik, 2 Bde., bearb. v. Paul Graff, Göttingen 1951, S. 178.779.
    21 Kirchen- und Schulbericht 1849/1850, zit. n. Hugald Grafe, Die volkstümliche Predigt des Ludwig Harms, Göttingen 1974 (2. Aufl.), S. 101; Brief an Pastor Plass in Serrahn, 3.8.1851, zit. n. Theodor Harms (Hg.), Briefe von L. Harms, Hermannsburg 1879, S. 134�136 (demnächst wie Anm. 19).
    22 zit. n. Wallmann, aaO, S. 283.

    Pastor Dr. J. R., Jgg. 1961, Dozent für Kirchengeschichte und Praktische Theologie, Missionsseminar Hermannsburg seit 2001. Wehrdienst. Studium der ev. Theologie in Bethel, Erlangen, Oslo, Göttingen und Chicago 1981�1987; Promotion über einen Frühscholastischen Paulinenkommentar in der orientalischen Kirchengeschichte bei Prof. Dr. Jouko Martikainen 1987�1992 <BR>in Göttingen. Vikariat und Pfarramt in der ev.-luth. Landeskirche Hannovers 1992�2001.<BR>
     

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